Samstag, 25. Juli 2009

Toleranz bei den Religionsstiftern

Die weitverbreitete Meinung, daß Intoleranz zum Wesen der Religion gehöre, halte ich für falsch. Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein: Im Ursprung ist Religion tolerant. Intoleranz erwächst, wie in einem früheren Eintrag schon erwähnt, stets erst durch ihre Verflechtung mit politischer Macht. Am Christentum sieht man beispielhaft: Erst als es zur Staatsreligion wurde, begann die Intoleranz gegenüber anderem Glauben. Beim Islam erkennt man die Verquickung von Religion und Politik besonders deutlich. Aber oft wird übersehen, daß dort, wo Religion und Politik nicht vermischt sind, religiöse Toleranz vorhanden ist. So lebten beispielsweise in Spanien fast 800 Jahre lang Christen, Juden und Muslime friedlich miteinander. Bevor die Europäer in Asien Fuß faßten, lebten Hindus und Buddhisten in Frieden zusammen. Der indische König und hinduistische Religionsführer ASHOKA (274-232 v.u.Z.), auch PIYADASSI genannt, erließ sogenannte Toleranz-Edikte, die viel weiter gingen als das, was heute möglich zu sein scheint. In einem heißt es u.a.: „Alle Religionen anderer Menschen sind es wert, ... geachtet zu werden. Indem man sie achtet, ehrt man seinen eigenen Glauben und erweist gleichzeitig dem Glauben anderer Gutes. Handelt man aber umgekehrt, so verletzt man den eigenen Glauben und schadet dem anderen, denn wenn jemand den eigenen Glauben heraushebt und einen anderen heruntersetzt, um das eigene Bekenntnis zu verherrlichen, so vergeht er sich schwerwiegend an seinem eigenen Glauben. Darum ist Eintracht allein gut. Einer höre auf des anderen Glaubenserfahrung und gehe ihr nach, ... daß alle Religionen voneinander lernen.“ (ZUMSEIL, FRIEDRICH: Religionen, Stuttgart, 3., durchges. u. erw. Aufl., 1923, S. 17) Die traditionelle religiöse Toleranz im Hinduismus hat außerdem ihre Wurzeln darin, daß die „Götter“ aller Religionen als Personifizierungen des Brahmans, des ewigen Absoluten und der höchsten nicht-dualen Wirklichkeit verstanden werden.

Wie hielten es eigentlich die Stifter der jeweiligen Religionen mit der Toleranz? Ich greife nur drei vergleichsweise heraus – den Buddha, Jesus und Muhammad.

Der Buddha sieht den Streit um den rechten Glauben als ein Symptom der Unerlöstheit des Menschen von ichhaftem Dünkel und eigensüchtigem Begehren. Die inhaltliche Toleranz des Buddha kommt sehr anschaulich in seinem weithin bekannten Gleichnis von den Blindgeborenen und dem Elefanten zum Ausdruck. Es erzählt von einem König, der die Blindgeborenen eines Ortes zusammenruft und sich um einen Elefanten herumstellen läßt. Jeder der Blinden berührt einen Körperteil des Elefanten. Danach werden sie nach dem Aussehen des Tieres befragt. Der erste Blinde hat ein Elefantenbein berührt und sagt: Der Elefant ist wie eine Säule, stämmig und stabil. Derjenige, der den Rüssel zu fassen bekam, sagt: Nein, nicht wie eine Säule - das ist falsch. Der Elefant ist eher einem Schlauch vergleichbar, beweglich und innen hohl. Und der Blinde, der den Bauch gefühlt hat, sagt: Also beweglich und Schlauch - das stimmt auch nicht. Der Elefant ist wie eine riesige Kugel. Da widersprach der, der hinaufgeklettert war und das Ohr berührt hatte: Nein, er ist wie ein Seeigel, flach und beweglich. Und derjenige, der den Schwanz in der Hand hielt, sagt: Niemals wie ein Seeigel. Er ist ein großer Pinsel, nur sehr viel rauher. So stellten sie alle sich den Elefanten anders vor. Das Gleichnis hat eine tiefe Bedeutung. Der Buddha will offensichtlich sagen: Jeder der Blinden hat tatsächlich Berührung gehabt mit der Wirklichkeit des Elefanten, und alle sagen sie die Wahrheit. Aber es ist immer nur ein kleiner Teil der Wahrheit, und es ist falsch, ihn für die ganze zu halten. Da jeder einzelne nur nach dem winzigen Stück urteilt, das er selbst wahrnimmt, glaubt er, sein Eindruck sei der richtige, und die anderen irrten. Auf das religiöse Gebiet übertragen heißt das: Der Mensch sollte seine eigene partielle Erkenntnis des Ewigen nicht für universell gültig halten, denn die fremden religiösen Erfahrungen anderer beruhen genauso auf einer Berührung mit dem Heiligen wie die eigenen.

Ein weiterer Aspekt: Der Buddha hat natürlich Heilslehren verkündet, aber nie hat er die Lehre für das Entscheidende ausgegeben. Die Lehre hat für ihn keinen Selbstwert als Heilsvoraussetzung, sie ist nur ein „Fahrzeug“, ein Vehikel zum Erreichen des Ziels. Es lohne sich also nicht, meint der Buddha, über Lehrsätze zu streiten, denn sie hätten nur einen relativen und damit untergeordneten Wert.

Außerdem begegnet uns in den Überlieferungen des Buddha eine entschiedene Ablehnung jeglichen Autoritätsglaubens, der ja für die Intoleranz charakteristisch ist. So sagt er zu seinen Jüngern: „Richtet euch nicht nach ... der Mitteilung heiliger Schriften, sondern, wenn ihr ... selbst erkennt, daß diese oder jene Dinge schlecht und verwerflich sind, ... so sollt ihr sie verwerfen.“ (Anguttara Nikâya 888,65,
s. http://www2.salzburg-online.at/buddhismus/RB/docs/Kalama%20Sutta.pdf) Hier kommt übrigens derselbe Standpunkt zum Ausdruck, den Jesus vertritt, wenn er seinen Jüngern sagt, daß die Befolgung seiner Botschaft sich nicht auf äußere Autoritäten gründen soll, sondern auf die eigene Erfahrung derer, die den Willen Gottes tun. (Siehe dazu: Johannes 7,17)

Auch Jesus war – nach den Evangelientexten – in verschiedener Hinsicht tolerant, beispielsweise in der Erzählung vom Hauptmann zu Kapernaum (Johannes 4,46ff.), im Verzicht auf die Steinigung der Ehebrecherin (Johannes 8,1ff.) oder in dem Gespräch Jesu mit der samaritischen Frau am Jakobsbrunnen (Johannes 4,7ff.). In all diesen und weiteren Texten wird offenbar, daß Jesus den Glauben nicht als eine dogmatische Auslegung des Wortes der Väter versteht, sondern als ein Vertrauen auf „den Vater“, das sich in einer konkreten Situation bewähren muß, wie beispielsweise bei der Stillung des Sturms (s. Markus 4,35ff.).

„Dein Glaube [Gute-Nachricht-Bibel: dein Vertrauen!] hat dir geholfen“, sagt Jesus mehrmals, nachdem er einen Kranken geheilt hat. Damit meint er offensichtlich nicht den Glauben an Buchstaben und Dogmen, sondern das Vertrauen auf Gott, der durch ihn wirkt. Das Verhalten des Jesus der Evangelien ist nicht dogmatisch, sondern flexibel und situationsentsprechend, lebensnah und bedürfnisgerecht. Der Mensch, so soll Jesus beispielsweise gesagt haben, sei nicht für den Schabbat gemacht, sondern der Schabbat sei für den Menschen da (s. Markus 2,27). Und wenn der gesetzestreue Jude dem Tempel opferte, was eigentlich seine armen Eltern dringender gebraucht hätten, dann war Jesus dafür, einer solchen Regel nicht zu folgen (s. Markus 7,11). Er meinte, daß im Konfliktfalle die Gesetze der Menschlichkeit über den von Menschen geschaffenen religiösen Weisungen zu stehen hätten. Aus Jesu Verkündigung geht hervor, daß Religion für ihn stets eine persönliche Glaubensentscheidung war und nicht die radikale Unterwerfung unter das mosaïsche Gesetz. Deshalb stellt er auch mit seinem souveränen „Ich aber sage euch...“ in der sogenannten Bergpredigt (Matthäus 5,22 u.a.) die inhaltliche Erfüllung des Gesetzes über die rein formale. Paulus unterstreicht das in seinem Brief an die Korinther, wo er schreibt: „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. [...] ...wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2. Korinther 3,6.17 - Lu) – Einer solchen Haltung ist jene Intoleranz fremd, die auf die ausschließliche Wahrheit und absolut bedingungslose Gültigkeit des überlieferten oder des eigenen heiligen Wortes pocht. Allerdings war das junge Christentum gegen Ende des zweiten Jahrhunderts in seiner Dogmatik und seinem Durchsetzungswillen weit weniger tolerant als sein Begründer.

Bei Muhammad ist die Beurteilung nach Toleranz und Intoleranz komplizierter als bei Jesus, weil der Prophet offensichtlich nicht zu allen Zeiten seines Lebens dieselbe Einstellung in dieser Frage gehabt hat. So könnte leicht eine Aussage von ihm durch eine frühere oder spätere widerlegt werden. Auch der Koran enthält (übrigens wie auch die Bibel!) durchaus Stellen, die im Sinne des Hasses und der Gewalt ausgelegt werden können, und so machen islamistische Fundamentalisten heute rege Gebrauch von der Möglichkeit, ihre Haßpredigten mit Koranversen zu begründen.

Im Koran gibt es neben martialischen Sprüchen (die sich, ich wiederhole es, gleichfalls in der Bibel finden), aber auch eindeutig tolerante Äußerungen, die der Gerechtigkeit wegen keinesfalls ignoriert werden dürfen. In der Sure 2,257 steht beispielsweise der sehr wichtige Satz: „Es soll kein Zwang sein im Glauben.“ Zu Anfang richtete sich die Toleranz Muhammads vor allem noch auf die „Schriftbesitzer“ (also die Juden und die Christen). Allerdings brachte es später die starke Politisierung des Islam mit sich, daß die Toleranz immer mehr von der Intoleranz verdrängt wurde. So wäre es meines Erachtens an der Zeit, daß fortschrittliche Muslime noch sehr viel mehr, als es bereits geschieht, die historisch gewachsenen Glaubens- und Lebensgrundsätze einer kritischen Überprüfung unterziehen, deren Zeitbezogenheit wahrnehmen und die allzu strengen, teilweise unmenschlichen Traditionen zu überwinden suchen.

Ich finde übrigens die in letzter Zeit gebräuchlich gewordene Unterscheidung zwischen dem Islam und dem Islamismus sehr nützlich und hilfreich. Dabei ist mit dem Islam die Religion gemeint, und unter Islamismus wird die mißbräuchliche Instrumentalisierung dieser Religion zur ideologischen Fundierung extremistischer politischer Ziele verstanden. Diese Unterscheidung ist wichtig, damit deutlich wird: Wenn der islamistische Terror eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden in der Welt darstellt, dann kann dafür nicht der Islam verantwortlich gemacht werden. Sieht man nämlich die spirituelle und ethische Seite des Islam im Vordergrund, dann hat er als eine friedliche Religion der Hingabe des Menschen an Gott und an seinen Nächsten zu gelten, als eine Religion, die in allen privaten und öffentlichen Bereichen die Grundlage schaffen soll für ein gottgefälliges Leben. Also bedient sich der militante Islamismus des Namens „Islam“ mißbräuchlich für die Rechtfertigung von Haß und Feindschaft, Gewalt und Aggression. Menschen muslimischen Glaubens betonen immer wieder, daß nach ihrem Verständnis islamistische Terroristen und Selbstmordattentäter kein Recht hätten, sich Muslime zu nennen, weil sie sich mit ihren abscheulichen Verbrechen nicht auf die islamische Religion berufen könnten und weil sie ihr in der Welt schweren Schaden zufügten.

Toleranz muß freilich auch ihre Grenze haben. Diese liegt naturgemäß da, wo die intolerante Absolutsetzung der eigenen religiösen Auffassungen beginnt und die Mißachtung und Verfolgung fremder Religion, wo der Mißbrauch der Religion für inhumane politische Ziele zum Fanatismus wird und zu einer Gefahr für die Menschlichkeit. Wollte man dieser Intoleranz, die sich im praktischen Handeln niederschlägt, mit Toleranz begegnen, so müßte die Toleranz sich selbst aufgeben. Deshalb beinhaltet die moralische Verpflichtung zur Toleranz unbedingt auch den konsequenten Einsatz gegen die Intoleranz mit den jeweils geeigneten Mitteln. Dabei dürfen wir allerdings nicht der fremden Religion und ihren Gläubigen mit Vorbehalten begegnen, nur weil deren Führer sich intolerant verhalten. Die von uns bekämpfte religiös verbrämte Intoleranz richtet sich nur gegen Volksverhetzung, Haßverbreitung und inhumanes Handeln. So sollte sich beispielsweise unser leidenschaftlicher Protest gegen jeden Terror richten, den, der im Namen einer Religion verübt wird, ebenso wie gegen den, der von einer Staatsführung ausgeht, nicht aber gegen die jeweilige Religion und das jeweilige Volk. Dabei ist es mir ein wichtiges Anliegen, daß wir den Kampf gegen jedweden Terror nicht mit den gleichen Mitteln führen, die ihm eigen sind, denn dann würden wir uns mit ihm auf dieselbe Stufe stellen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß man Terror nicht mit Terror, Verbrechen nicht mit Verbrechen und Bomben nicht mit Bomben bekämpfen kann.

Samstag, 27. Juni 2009

Formale und inhaltliche Toleranz

Es gibt zwei Arten von Toleranz: die formale und die inhaltliche.

Formale Toleranz ist das bloße Zulassen und Hinnehmen dessen, was man für sich selber ablehnt. Man erträgt mehr oder weniger gleich­gültig oder gar gezwungenermaßen anderer Leute Meinungen und Ver­haltensweisen. Fremde Glaubensüberzeugungen läßt man unangetastet, damit verbundene religiöse Handlungen dürfen ausgeführt werden. Bezo­gen auf die staatliche Zulassung unterschiedlicher Religionen, spricht man von Glaubensfreiheit. Aber wir finden diese formale Toleranz natür­lich auch im alltäglichen individuellen Umgang der Menschen mit Andersgläubigen. Sie kann sich zum Beispiel darin zeigen, daß die Bürger einer deutschen Stadt den Bau einer neuen Moschee hinnehmen, statt öffentlich dagegen zu protestieren.

Inhaltliche Toleranz jedoch geht noch einen Schritt weiter. Es handelt sich dabei nicht nur um ein einfaches Geltenlassen fremder Überzeugungen im Sinne des Erduldens, sondern um das ehrliche Bemü­hen, das Andersartige zu verstehen, in seiner Wahrheit zu respektieren und für sich selbst fruchtbar zu machen. In allen Religionen erleben Menschen nach eigener Aussage das Numinose als eine erfahrbare Wirk­lichkeit – unabhängig davon, ob sie es nun „Gott” nennen oder welche anderen Namen sie ihm geben. Wenn man das aber akzeptiert, dann ergibt sich daraus die innere Bereitschaft, auch andere religiöse Wege ehrfürchtig als Möglichkeiten der Begegnung mit dem Göttlichen wahrzunehmen.

Wenn keine Religion im Besitz der vollkommenen göttlichen Wahrheit sein kann, dann ist es also auch die eigene Religion nicht. Wer das erst einmal erkannt hat, der nimmt Abschied vom Absolutheitsanspruch des Denkens. Alle Religionen sind vergleichbar mit den verschiedenen Wegen, auf denen man zu demselben Berggipfel aufsteigt. Wer das einsieht, hält seinen Weg nicht mehr für den einzigen, der zum Ziele führt. Ich teile die Meinung des Schweizer Theologen Hans Küng (*1928), wenn er sagt: „Es gibt verschiedene Heilswege (mit verschiedenen Heilsgestalten) zum einen Ziel, die sich sogar zum Teil überschneiden und sich gegenseitig befruchten können.“ (Küng, Hans: Wozu Weltethos?. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg/Basel/Wien, 2002, S. 129)

Wer zu dieser Erkenntnis gelangt ist, der weiß: Es genügt nicht, die anderen Religionen nur formal zu tolerieren, also ihr Vorhandensein lediglich billigend und – wenn es hoch kommt – mit Respekt zu akzeptieren, sondern man sollte vielmehr das Wahre, Kostbare und Heilige auch in ihnen zu entdecken suchen und ebenso ernst nehmen wie das Wahre, Kostbare und Heilige in der eigenen Religion. Das fällt vielen Menschen offensichtlich schwer.

Vor einem leicht aufkommenden Mißverständnis muß ich allerdings warnen: Inhaltliche religiöse Toleranz ermöglicht es zwar, eine andere Religion als Ausdruck einer ebensolchen Erfahrungswirklichkeit zu se­hen, wie es die eigene ist, sie verlangt aber keinesfalls die Preisgabe der eigenen Glaubensüberzeugung oder gar einen Bruch mit der eigenen reli­giösen Tradition!

So mahnt zum Beispiel der katholische Theologe, Benediktinerpater und Zen-Meister Willigis Jäger (*1925): „Ich werde niemandem raten, seine Religion zu verlassen, so wenig, wie ich mein Christentum verlassen möchte. Aber die Religion ist mir nur Wegweiser, nicht Ziel. Wenn ich erkenne, dass der Wegweiser sich zu wichtig nimmt und mich aufhalten möchte, werde ich ihm nicht folgen.“ (Jäger, Willigis: Die Welle ist das Meer. Mystische Spiritualität, Freiburg i. Br., 15. Aufl., 2005, S. 61) Weiterhin stellt er fest: „Erfahrbar, wirklich erfahrbar, ist Gott im Korsett der Konfessionen nicht. [...] Die Religionen sollen nebeneinander bestehen bleiben. Wir brauchen die vielen ‚Glasfenster‘, die uns etwas sagen über das Licht dahinter. Sie dürfen ihre Ansichten nur nicht verabsolutieren.“ (S. 63)

Im gleichen Sinne schreibt der Dalai Lama (*1935): “Als ich größer wurde, konnte ich peu à peu mehr über andere Weltreligionen in Erfah­rung bringen. Vor allem später, im Exil, begegnete ich zunehmend Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang anderen Glaubensrichtungen widmeten... Diese Gespräche ließen mich den ungeheuren Wert einer jeden Glaubenstradition erkennen und weckten tiefen Respekt in mir.” (Dalai Lama: Das Buch der Menschlichkeit. Eine neue Ethik für unsere Zeit, Bergisch Gladbach 2002, S. 30) Da es, wie wir gesehen haben, viele Wege zum Berggipfel gibt, muß jeder, der hinaufsteigen will, seinen eigenen Weg finden, den Weg also, der am besten zu ihm paßt. Daher fährt auch der Dalai Lama fort: “Dennoch bleibt der Buddhismus für mich selbst der wertvollste Weg; er paßt am besten zu meinem Wesen. Das bedeutet aber nicht, daß ich in ihm die Religion sehe, die sich gleichermaßen für alle Menschen eignet...” (S. 30) In diesen Worten kommt sehr klar zum Ausdruck, daß innere Toleranz keinen Auszug aus der eigenen Glaubensheimat verlangt.

Ich bekenne mich noch immer zur Religion meiner Kindheit, denn sie hat mich am meisten geprägt, und sie ist mir als erste Weg, Wahrheit und Leben gewesen. Aber ich habe auch in anderen Religionen Wege zum Leben und Wahrheiten gefunden, die mir wertvolle Hilfen waren und sind, meine eigenen Erfahrungen mit dem Göttlichen zu machen. Trotzdem bleibt die christlich geprägte Kultur meine geistige Heimat.

Nur durch inhaltliche Toleranz wird es möglich, daß die Gläubigen verschiedener Religionen auch voneinander lernen können. So schreibt zum Beispiel Eugen Drewermann: „...mir [ist] vorstellbar, daß eine bessere Religion, eine noch erweiterte Form von Religion sich bilden wird unter dem Eintrag des Islam, des Buddhismus, des Hinduismus. ... Also her mit dem Buddha, her mit Mahatma Gandhi, dem Hindu! Das mußte ich jetzt lernen, um Jesus zu verstehen. So wie die von der Kirche ihn mir beibringen wollten, hatte ich gar keine Chance, ihn zu verstehen. Heute weiß ich: Die Menschlichkeit Jesu begreife ich im Kommentar dieser asiatischen Religionen offensichtlich besser. So wurde ich Buddhist, um, wenn Sie wollen, Christus zu verstehen. Und ich bin sehr froh um diese Begegnung. Ich werde jene Synthese, mit der ich zu leben begonnen hatte, nie wieder verlassen.“ (Drewermann, Eugen: Wozu Religion?, Freiburg/Basel/Wien 2001, S.184, 224)

Freitag, 15. Mai 2009

Der subjektive und der objektive Absolutheitsanspruch

Der objektive Absolutheitsanspruch sagt: Mein Glaube ist der einzig wahre, weil die Bibel (der Papst, der Koran oder irgendeine andere Autorität) es zweifelsfrei bezeugt und weil von mehreren einander widersprechenden Aussagen nur eine wahr sein kann.

Diese Behauptung geht von dem Denkfehler aus, daß Glaubenswahrheiten ihrem Wesen nach dasselbe seien wie die Wahrheit mathematischer Gleichungen. Aber wenn jemand von sich behauptet, er allein vertrete die Wahrheit, dann ist Dialog unter gleichen Partnern nicht möglich. Daher ist jeder objektive Absolutheitsanspruch naturgemäß und zwangsläufig intolerant. Ein Dialog auf gleicher Augenhöhe ist nur dann möglich, wenn die Gesprächspartner ihre gegensätzlichen Wahrheiten als gleichberechtigt akzeptieren.

Dagegen bedeutet der subjektive Absolutheitsanspruch: Mein Glaube ist für mich unbedingt wahr. Das schließt nicht aus, daß dein Glaube für dich gleichermaßen die Wahrheit ist. Meine religiöse Erfahrung ist die für mich einzig wahre, weil ich nur von ihr (und von keiner anderen!) zutiefst berührt und verändert worden bin, weil ich nur in dieser Glaubenstradition (und in keiner anderen!) meine geistliche Heimat gefunden habe und weil nur dieser (und kein anderer!) mein Weg ist, auf dem allein ich die Verbindung mit dem Heiligen spüre. So sagt also der subjektive Absolutheitsanspruch: Mein Glaube ist meine Wahrheit, aber nicht die Wahrheit. Mein Weg ist kein besserer Weg als deiner, er ist nur ein anderer Weg zum selben Ziel. Mit dieser Einstellung könnte die Heilung der Konflikte zwischen den Religionen beginnen.

Dabei geht es keineswegs um eine Beliebigkeit des eigenen Glaubens, von dessen Richtigkeit man etwa nicht überzeugt sein müsse. Es ist – im Gegenteil! – eine der notwendigen Voraussetzungen für einen fruchtbaren interreligiösen Dialog, daß man einen klaren Glaubensstandpunkt hat und damit seine eigene Wahrheit vertritt.

Dienstag, 12. Mai 2009

Gegensätzliche Glaubenswahrheiten schließen einander nicht aus

Für den einen ist die Bibel das Wort Gottes, für den anderen ist es eine andere Heilige Schrift wie zum Beispiel der Koran, und ein dritter glaubt, daß man überall dem Göttlichen begegnen kann. Ich denke, daß alle drei auf ihren verschiedenen Wegen zu göttlichen Erfahrungen gelangen, denn ich bin davon überzeugt, daß das Göttliche nicht auf die Buchstaben irgendeines Buches reduziert und darin festgehalten werden kann. Gött­licher Geist „weht, wo er will“ (Johannes 3,8 - Zü), warum also sollte er so, wie er in Jesu Handeln wirksam war, nicht auch in anderen Religionen gegenwärtig sein können?

„Prüft aber alles, und das Gute behaltet!“ (1. Thessalonicher 5,21 - Lu) Das gilt, wie ich finde, auch für den interreligiösen Dialog. Das „Gute“ ist jener göttliche Geist, der unter anderem auch der Verständigung und dem Frieden unter den Menschen dient. Dieses „Gute“ aber ist in allen Religionen enthalten, auch wenn es in ihnen durch immer wieder andere Mythen und Legenden zum Ausdruck kommt.

Einer hält die „unbefleckte“ Empfängnis Jesu im biologischen Sinne für wahr, während ein anderer in der Jungfrauengeburt der Maria ein uraltes mythisches Motiv zur Hervorhebung der einzigartigen Besonder­heit der Person Jesu ansieht. Ich glaube, daß bei beiden Betrachtungs­weisen das Göttliche in seinem (uns verstandesmäßig unzugänglichen) Wesen dasselbe bleibt.


Der eine gründet seinen Glauben an den Christus Jesus darauf, daß am Kreuz Gott selbst für ihn gestorben sei; für den anderen sind Kreuzi­gung und Auferstehung nur Bilder für eine tiefere Wahrheit. Ich glaube, daß sich dennoch beide von der Liebe Gottes gleichermaßen umfangen und getragen wissen dürfen.

Für den einen ist es eine Glaubenswahrheit, daß Jesus der Sohn Gottes sei, während es für den anderen eine ebensolche Glaubens­wahrheit ist, daß er es nicht sein könne, weil Gott keinen Sohn habe. Ich glaube, daß beide ihrer jeweiligen Wahrheit getrost treu bleiben können, weil die Tatsache der Gegensätzlichkeit dieser beiden verschiedenen Vorstellungen nichts zu ändern vermag an der Wahrheit Gottes, die wir alle nicht kennen.

Wenn zum Beispiel immer wieder behauptet wird, daß die Muslime an einen anderen Gott glaubten als die Christen, weil Allah keinen Sohn habe, so geht dieses Argument ins Leere, denn die unterschiedliche Sicht auf die Person Jesu ergibt sich aus ver­schiedenen menschlichen Glaubensvorstellungen. Was sich gegenseitig ausschließt, das sind die Lehrgebäude und Dogmen der Menschen. Aber davon ist nach meiner Überzeugung das Göttliche völlig unabhängig. Werden also religiöse Lehrsätze nicht in einen unzulässigen Widerspruch gebracht, sondern als verschiedene gleichwertige Möglichkeiten angesehen, bildhaft von Gott zu sprechen, und als wahr für den, der sich zum jeweiligen Glauben bekennt, dann ist Gott nur noch Gott, in allen Religionen derselbe.

Deshalb können nach meiner Überzeugung Christen, Juden und Muslime sich im Glauben an denselben Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vereint wissen, solange sie sich nicht von widersprüchlichen Dogmen irritieren lassen. Das bestätigt im Kern sogar Papst Benedikt XVI. (*1927), der im Jahre 2006 in einer Rede sagte: „Judentum, Christentum und Islam glauben an den einen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde. Daraus folgt, daß alle drei monotheistischen Religionen zur Zusammenarbeit für das Gemeinwohl der Menschheit aufgerufen sind, indem sie der Sache der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt dienen“. (http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/march/documents/hf_ben-xvi_spe_20060316_jewish-committee_ge.html)

Im Widerspruch dazu steht freilich, daß der Papst in letzter Zeit den katholischen Christen wiederholt untersagt hat, mit Angehörigen anderer Religionen, z.B. Muslimen oder Juden, gemeinsam zu beten, da „jeder nur zu seinem eigenen Gott beten“ könne. Das ist übrigens auch die Auffassung der protestantischen Kirchen.

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) ging sogar so weit zu sagen, "beim Glauben ... komme alles darauf an, daß man glaube; was man glaube, sei völlig gleichgültig. Der Glaube sei ein großes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft, und diese Sicherheit ent­springe aus dem Zutrauen auf ein übergroßes, übermächtiges und un­erforschliches Wesen" (Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke, Berlin/Leipzig/Wie/Stuttgart 1924)

In diesen Zusammenhang paßt auch ein Ausspruch des anderen großen Weimaraners Friedrich Schiller (1759-1805):

Welche Religion ich bekenne?
Keine von allen, die du mir nennst!
Und warum keine?
Aus Religion
.

(Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in fünf Bänden, München/Wien 1972, Band 1, Mein Glaube, S. 307)

„Alle Religionen sind im Grunde menschheitlich“, sagt Eugen Drewer­mann. „Wir müssen sie nur aus ihren kulturellen Sondervoraussetzungen lösen, damit dieser ihr Kern wirklich frei wird.“ (Drewermann, Eugen: Wozu Religion?, Freiburg/Basel/Wien 2001, S. 186)

Wenn wir das, was die verschiedenen Religionen an Lehren unter­scheidet, einmal beiseite ließen und die ganze Aufmerksamkeit einzig auf das Wesentliche richteten, dann würde gewiß jede von ihnen sich als die „richtige“ und „wahre“ erweisen, falls die sich zu ihr bekennenden Gläubigen sich ehrlichen Herzens und frischen Mutes darum bemühten, das durch ihr Verhalten augenfällig zu beweisen!

Die Idee von solch einem „Wettbewerb“ der Religionen hat Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) in seinem „Nathan dem Weisen“[20] mit der „Ring-Parabel“ sehr eindrucksvoll veranschaulicht. Ihr Grundgedanke ist: Alle Religionen gehen auf Gottes Willen zurück und können also verschie­dene Wege zu Gott sein. Gott ist wie ein Vater, der seine drei Söhne gleich liebte, aber nur einen Ring zu vererben hatte, der über die „geheime Kraft“ verfügte, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“. Also ließ der Vater zwei zum Verwechseln ähnliche Kopien anfertigen. Als er starb, konnte keiner der Söhne wissen, ob er oder seine Brüder im Besitz des wahren Rings sind. Die drei Söhne wollten daher vor Gericht herausbekommen, welcher Ring der wahre sei. Doch „der rechte Ring ist nicht erweislich“. Es zeigt sich sogar als nicht völlig ausgeschlossen, daß der wahre Ring dem Vater verlorenging und er deshalb drei Kopien anfertigen ließ. Der Richter jedenfalls rät den drei Söhnen:

Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht! — So sagte der
Bescheidne Richter.

Bei diesem Richterspruch hat Lessing sich vermutlich vom Koran inspirieren lassen, wo es in Sure 5:49 heißt: „Und hätte Allah gewollt, Er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch Er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er euch gegeben. Wetteifert darum miteinander in guten Werken.“ (Koran. Der Heilige Qur-ân, Verlag Der Islam, Leipzig 2001)

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich will die Unterschiedlichkeit von Glaubensinhalt und Glaubenspraxis in den einzelnen Religionen bis hin zur Gegensätzlichkeit keineswegs einebnen oder gar leugnen. Aber ich messe den verschiedenen göttlichen Erfahrungen in allen Religionen den gleichen hohen Wert zu. Aus diesem Grunde erscheinen mir Kontro­versen über Glaubensfragen abwegig und bedauerlich. Deshalb finde ich es umso sympathischer, wenn zum Beispiel der Koran sagt, daß man theologische Haarspaltereien und Streitgespräche um des Gemeinsamen willen tunlichst vermeiden sollte: „Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn in der besten Art... und sagt: Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und was zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist Einer. Ihm sind wir ergeben.“ ([17], Sure 29,46 f.) Das Wort „streiten“ hat zu unrecht meist einen negativen Beiklang, denn es kann auch etwas sehr Förderliches sein, miteinander zu streiten. Streiten „in der besten Art“ heißt für mich: Beim aufmerksamen Hören auf den Dialogpartner viel über seinen Glauben – und auch über den eigenen! – zu lernen, sich zu öffnen zum Verstehen fremder Überzeugungen und die eigenen zu überprüfen. Wenn allerdings die Streitenden nicht bereit sind, die Glaubenserfahrungen des jeweils anderen respektvoll anzunehmen und als wirkliche Erfahrungen gelten zu lassen, wird Streit unfruchtbar und kann den Dialog empfindlich stören oder gar scheitern lassen.

Wie verschieden die persönlichen Glaubenserfahrungen von Men­schen sein können, zeigt uns sehr eindrucksvoll die überwältigende Fülle an unterschiedlichen religiösen Vorstellungen in den einzelnen Religio­nen, ja oft sogar selbst innerhalb ein und derselben Religion. Diese Viel­falt an Bildern und Glaubensinhalten macht es daher auch nahezu unmöglich, Begriffe und Bezeichnungen zu finden, in denen sich die all­umfassende göttliche Wirklichkeit festmachen läßt. Allein das zentrale Wort „Gott“, mit dem wir den notdürftigen, aber unverzichtbaren Versuch machen, das Unnennbare zu benennen, zeigt das recht anschaulich:

Auf Margarethens besorgte Frage

„Glaubst du an Gott?“

antwortet bekanntlich Goethes Faust ihr mit diesen vielsagenden Worten (Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke, Berlin/Leipzig/Wie/Stuttgart 1924, Band 8, S. 96f.):

„Mein Liebchen, wer darf sagen:
Ich glaub' an Gott?
Magst Priester oder Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.
Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub' ihn?
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: ich glaub' ihn nicht?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht hier unten fest?
Und steigen freundlich blickend,
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau' ich nicht Aug' in Auge dir,
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir,
Und webt in ewigem Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll' davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn' es dann, wie du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.“

Und auf Margarethens Einwand:

„Das ist alles recht schön und gut;
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,
Nur mit ein bißchen andern Worten“

erwidert Faust:

„Es sagen's allerorten
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,
Jedes in seiner Sprache;
Warum nicht ich in der meinen?“

„Alle Herzen auf der ganzen Welt sagen’s in ihrer Sprache!“ Das heißt doch auch: mit ihren jeweiligen Bildern und Legenden, mit ihren ver­schiedenen Mythen und Glaubensvorstellungen und mit ihren ganz persönlichen religiösen Erfahrungen. Dennoch haben sie alle einen Teil der göttlichen Wahrheit erfaßt, die niemand ganz erfassen kann, kein Mensch und keine Religion.

Sonntag, 10. Mai 2009

Was ist "Wahrheit" in der Religion?

Religiöser Glaube ist Vertrauen und Zuversicht auf die letztendliche Geborgenheit in einer überweltlichen Macht; er ist nicht das Für-wahr-Halten von Gottesbildern und Lehren, Mythen und Legenden. Religiöser Glaube äußert sich seinem Wesen nach in inneren Erfahrungen und archetypischen Bildern, nicht aber in der historischen und faktischen Wirklichkeit des Inhalts Heiliger Schriften.

Auf meinem Weg des Suchens bin ich allmählich zu der Einsicht gelangt, daß die Geschichte von der leiblichen Auferstehung Jesu nicht wahr sein muß, um zutiefst wahr sein zu können. Dieses Wortspiel will sagen: Eine Glaubenswahrheit muß nicht im tatsächlichen Geschehen eines beschriebenen Ereignisses gesucht werden, sondern in seiner Bedeutung für den Glaubenden. Auch das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot ist nicht wahr als tatsächliches Geschehen – und ist doch wahr in seiner tieferen Bedeutungsebene. Der namhafte Theologe, Psychotherapeut und Publizist EUGEN DREWERMANN (*1940) hat das in seiner tiefenpsychologischen Deutung dieses Grimmschen Märchens sehr anschaulich und eindrucksvoll gezeigt (DREWERMANN, EUGEN: Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, München 1992, S. 11ff.).

Der deutsche evangelischen Theologe GUSTAV MENSCHING (1901-1978) schreibt: „Wahrheit ist in der Religionswelt ... die göttliche Wirklichkeit selbst, der Menschen erlebnishaft begegnet sind. Von dieser Wirklichkeit und der Begegnung mit ihr zeugen religiöse Begriffsbildungen mythischer Art, deren ‚Wahrheit’ in dem vorhandenen Bezug zu jener Wirklichkeit liegt, nicht aber in ihrer rationalen Richtigkeit.“ (MENSCHING, GUSTAV: Toleranz und Wahrheit in der Religion, Heidelberg 1955, S. 155)

Das heißt mit anderen Worten: Die Wahrheit von Glaubensaussagen ist nicht darin zu suchen, daß die Aussage mit dem bezeichneten Sachverhalt in Raum und Zeit tatsächlich übereinstimmt, sondern sie ist zu finden in der erlebten (und weiterhin noch erlebbaren) Wirklichkeit der Erfahrung des Menschen mit dem Göttlichen. Christlicher Glaube zum Beispiel besteht dann nicht darin, die Wundererzählungen, Mythen und Legenden in den Evangelien für historische Tatsachen zu halten, sondern in der inneren Erfahrung des Gläubigen, daß aus ihnen etwas zu ihm spricht, das ihn in der Tiefe berührt und so zur erfahrenen und mithin geglaubten Gewißheit für ihn wird.

Wir müssen also unterscheiden zwischen einer
Wahrheit der objektiven Tatsache und einer Wahrheit der subjektiven Erfahrungsgewißheit.

Lebt beispielsweise ein gläubiger Christ aus der persönlichen Begegnung mit dem auferstandenen Christus, in welchem Gott Mensch geworden ist, dann ist dessen Göttlichkeit für diesen Christen ebenso erlebte Wirklichkeit und folglich persönliche Gewißheit, wie es für einen gläubigen Muslim eine erlebte Wirklichkeit und damit persönliche Gewißheit ist, daß Jesus nicht Gott sein kann. Diese beiden subjektiv erfahrbaren Wirklichkeiten schließen aber einander nicht aus, wie objektive (und also wissenschaftlich nachprüfbare) Tatsachen es täten, wenn sie einander widersprächen, sondern sie können sehr wohl gleichwertig nebeneinanderstehen. Bei beiden handelt es sich um Glaubensgewißheiten, von denen Menschen in Wahrheit zutiefst ergriffen sind. Sie sind daher im religiösen Sinne beide wahr, und „zwei Wahrheiten können einander nie widersprechen“, wie GALILEO GALILEI (1564-1642) treffend feststellte. Ein Wahrheitsurteil dagegen im wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Sinne über die Richtigkeit oder Falschheit des einen oder anderen religiösen Bekenntnisses steht niemandem zu und wäre – aus dem genannten Grunde – auch gar nicht möglich.

Daraus folgt: Der erste und entscheidende Schritt auf dem Wege zur Interreligiosität muß die Akzeptanz des Selbstverständnisses des anderen sein. Die Feststellung: „So steht es geschrieben, also ist es wahr!“ ist für den Gläubigen eine Glaubensaussage. Was da geschrieben steht, ist für ihn als göttliches Wort absolut verbindlich. Das muß der Dialogpartner respektieren. Hier ist die Achtung vor dem Glauben des anderen geboten, und dieser Glaube ist weder „richtig“ noch „falsch“, sondern die Wahrheit des Glaubenden! Diese Grundeinstellung ermöglicht überhaupt erst ein fruchtbares Gespräch unter Gleichen.

„Was ist denn Wahrheit?“ fragt JÖRG ZINK (*1922), einer der bekanntesten evangelischen Theologen der Gegenwart. „Ist Wahrheit die Richtigkeit von Glaubenssätzen? Ist Wahrheit nicht die Macht des Gottesgeistes, der [...] unser Leben durchformt und uns den Weg weist, den wir in Freiheit gehen können?“ (ZINK, JÖRG: Entdecken, was uns verbindet. Spirituelle Texte aus allen Religionen der Erde, Verlag Kreuz GmbH, Stuttgart 2008, S. 12)

Die jeweiligen Wahrheiten der Glaubenden können, wie wir wissen, sehr unterschiedlich und sogar gegensätzlich sein. Aber das hat für mich eine einfache Erklärung: Ich denke, daß die „Götter“ in den verschiedenen Religionen der Welt und ihren Heiligen Schriften unterschiedliche Versuche der Menschen sind, das Göttliche, das sie ahnen und erfahren, zu beschreiben. In ihren Gottesbildern spiegeln sich stets ihre eigenen historischen und kulturellen Hintergründe, ihre ethnischen Besonderheiten sowie ihre Erlebnishorizonte und Deutungsmuster wider. In allen diesen Gottesvorstellungen sehe ich Ausdrucksformen eines ernstzunehmenden und ehrwürdigen Vortastens zu dem Unerfaßbaren und Unbeschreibbaren. Wer dürfte sich anmaßen, sie zu bewerten? So ziemt sich für uns ein gesundes Maß an Demut und Ehrfurcht vor dem religiösen Erfahrungswissen der anderen.

Daraus schließe ich nun, daß formale Gegensätze in den Lehren der verschiedenen Religionen ohne Schwierigkeiten hingenommen werden können, denn sie lassen den Glauben in seinem Kern unberührt. Daher kommt es meines Erachtens in erster Linie darauf an, daß wir uns wieder auf den Glauben im Ursinne des Wortes zurückbesinnen, also auf

  • das Einssein mit dem Urgrund allen Seins und auf das unerschüt­terliche Vertrauen, das dem Menschen aus der Quelle des Lebens die Kraft gibt zum „Feststehen in dem, was man erhofft, (zum) Überzeugt­sein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebräer 11,1 - EÜ) und zum zuversichtlichen Abwarten des Lebensschicksals, sowie
  • das Wissen um das Gehaltensein in jeder Lebenslage und über den Tod hinaus.
Gegenüber diesem in der Erfahrung lebendigen Wesenskern des Glau­bens scheint mir das jeweilige theoretische Bezugssystem von unter­geordneter Bedeutung zu sein. Könnten wir die Religionen ihrer sämt­lichen Lehrsätze entkleiden, dann würden wir gewiß mit Staunen ent­decken, wie gleich sie sich im Grunde alle sind! Wenn wir die Heiligen Schriften der verschiedenen Religionen ohne Vorurteile lesen, dann stel­len wir fest, daß sie nicht nur zeitbezogene – und damit veraltete – Aussagen enthalten, sondern auch zeitlose Grundwahrheiten. Warum also sollten diese Schriften – trotz aller Unterschiedlichkeit und Wider­sprüchlichkeit – einander nicht auch gegenseitig bestätigen, ergänzen und befruchten?

Wie relativ der Wert religiöser Glaubenssysteme ist, sehe ich nicht zuletzt darin, daß jegliche theologische Lehre – wie überhaupt alles menschliche Reden von Gott – nur Versuch und Andeutung sein kann, Tasten und Sehnen, scheues Wagnis, Bilder für etwas zu finden, das sich unserem Begreifen und damit unseren Begriffen entzieht. Was wir über das Unaussprechbare wirklich sagen können, ist einzig der Satz: „Gott ist!“, alles weitere ist – das Wort „Gott“ selbst mit eingeschlossen – nur Gleichnis. Gleichnisse hat daher auch Jesus benutzt, um den Menschen Gott zu verkünden. „Wenn du es begriffen hast, dann ist es nicht Gott“, sagt der Kirchenvater AUGUSTINUS VON HIPPO (354-430).

Hier zeigt sich überhaupt das Grundproblem eines jeglichen Redens von Gott: Einerseits ist da die Erfahrungsweisheit des Gebotes: „Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgendein Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist“ (2. Mose/Exodus 20,4 - Zü), und des Gotteswortes aus dem Munde des Propheten Jesaja: „Mit wem wollt ihr Gott vergleichen? Gibt es irgend­etwas, das einen Vergleich mit ihm aushält?“ (Jesaja 40,18 - GN) (Ich denke, Buddhisten beispielsweise verstehen viel besser als Christen, daß die erste und letzte Wirklichkeit, die alles durchdringt, das große Geheimnis unseres Le bens, nicht mit Begriffen erfaßt werden kann, sondern daß wir es allenfalls im warten den und demütigen Schweigen zu erspüren vermögen.)

Andererseits aber können wir von unserem Erleben des Göttlichen nur dann reden, wenn es in Bild und Symbol geschieht. Ohne Bilder kommt religiöse Sprache nicht aus. Da dies nun einmal so ist, müssen wir uns auch stets dessen bewußt sein, daß es eben nur Bilder sind, die in den Religionen dazu dienen, Glaubenswahrheiten auszudrücken. Also dürfen wir nie außer acht lassen, daß alles, was Menschen in den verschiedenen Religionen jemals von Gott gesagt und niedergeschrieben haben, nur unzulängliche Versuche sind, Unsagbares zu sagen, Unbeschreibbares aufzuschreiben, religiöse Erfahrungen in unsere begrenzte menschliche Vorstellungswelt zu übertragen und in unsere untauglichen Worte zu fassen.

Obwohl Gott beispielsweise als Vater („Haben wir nicht alle denselben Vater? Hat nicht ein und derselbe Gott uns geschaffen?“ – Maleachi 2,10 - ), als Mutter („Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch“ – Jesaja 66,13 - EÜ), als Töpfer („Ist denn der Ton so viel wie der Töpfer?“ – Jesaja 29,16 - EÜ), als Hirte („Der HERR ist mein Hirte…“ – Psalm 23,1 - Lu) usw. bezeichnet wird, ist die unerfaßliche Gottheit doch mit keinem dieser Anthropomorphismen (d.h. vermenschlichenden Begriffe) iden­tisch. Alle Bilder, mit denen wir von Gott reden, entspringen zwangsläufig unserer eigenen Denk- und Erfahrungswelt. Die verschiedenen in den Heiligen Schriften der Religionen be­schriebenen Wesensmerkmale Gottes können uns also nicht sagen, wie Gott an sich ist; sie sagen uns lediglich, was er für uns ist – für die Menschen, die ihn so erfuhren und beschrieben, und für diejenigen, die diese Beschreibungen zum Grunde ihres Glaubens gemacht haben.

Wenn das aber so ist, dann allerdings dürfen wir unterschiedliche Gottesvorstellungen und Glaubenslehren in den verschiedenen Religionen nicht über die gemeinsamen spirituellen Erfahrungen stellen.

Jede Religion besteht nach meiner Erkenntnis im Grunde aus drei Ebenen. Diese sind:

  1. die Ebene der Spiritualität (also der inneren Erfahrung aus der Begegnung mit dem Numinosen sowie der jeweiligen Heiligen Schrif ten und der sakralen, rituellen Handlungen);
  2. die Ebene des Ethos (also des religiös begründeten sittlichen Bewußtseins, aus dem sich normierende moralische Regeln ergeben); und
  3. die Ebene der Dogmatik (also der als allgemeinverbindlich erklärten Interpretation des Spirituellen, die Lehren und Doktrinen).

Die ersten beiden Ebenen haben von Natur aus einen religions­übergreifenden Charakter und wirken daher verbindend. Der Wesenskern aller Religionen ist nach den Ergebnissen der religionswissenschaftlichen Forschung stets derselbe: Es geht immer um diese vier Dinge:

  1. die Anerkennung einer transzendenten Existenz als Anfang und Ende allen Seins,
  2. die Vorstellung von einer Weiterexistenz nach dem Tode,
  3. eine (wie auch immer geartete) Heilserwartung und
  4. ein Katalog von Verhaltensregeln.

Alles andere ist Dogmatik und damit religionsspezifischer Natur, wobei das eine dogmatische System keinen größeren Anspruch auf Wahrheit hat als die anderen.

Die trennende Wirkung geht einzig von der dritten Ebene aus, wenn sie in ihrer Bedeutung über die erste und die zweite gesetzt wird. Nicht die religiöse Spiritualität und das religiöse Ethos führen zu unverein­baren Gegensätzen, sondern die Dogmatik ist das Problem! Ordnet man aber die Ebene der Dogmatik den Ebenen der Spiritualität und des Ethos unter, dann kommt es nach meiner Überzeugung nicht wesentlich darauf an, welcher Religion man angehört und welches Glaubensbekenntnis man spricht, sondern allein darauf, daß man in Einklang mit dem Göttlichen gelangt und daß man nach humanistischen Grundsätzen lebt. Aber wenngleich das meine Überzeugung ist, so beansprucht sie doch keineswegs, auch für jeden anderen Menschen richtig zu sein.

Freitag, 8. Mai 2009

Ursachen und Folgen religiöser Intoleranz

Intoleranz auf religiösem Gebiet hat es immer gegeben. Sie hat viele verschiedenartige Wurzeln – anthropologische, ethnische, historische, soziologische, religionspsychologische. Vor allem sind es meines Erachtens diese vier:

1. Der gemeinsame Glaube bringt ein „Wir“-Gefühl hervor, das Einheit schafft und damit Schutz und Geborgenheit erzeugt in der Gemeinschaft und in einer (meist langen) gemeinsamen Tradition. Damit es aber ein „Wir“-Gefühl geben kann, braucht es die Existenz solcher, die nicht „wir“ sind, „die anderen“ also, die Andersglaubenden.

2. Der gemeinsame Glaube stabilisiert das soziale und oft auch das nationale Selbstwertgefühl, weil man sich als Gruppe oder Volk im Besitz der Wahrheit wähnt, über welche „die anderen“ nicht verfügen. Durch die Abwertung „der anderen“ erhöht sich also der eigene Wert, die eigene Autorität. Deshalb reagieren vor allem Gemeinschaften, die bedroht sind oder sich bedroht fühlen, besonders intolerant: Je größer die (meist nicht eingestandenen) eigenen Defizite sind, desto stärker wird die Tendenz zur kompromißlosen Rechthaberei.

3. Der gemeinsame Glaube bildet eine Grundlage für die Aggressionsableitung gegenüber den Andersgläubigen, die in die Rolle des „Sündenbocks“ gedrängt werden, auf den sich negative Energien ohne Schuldgefühl entladen können. Andersgläubige werden dann sehr schnell als Ungläubige wahrgenommen, als Irrende, die entweder missioniert oder – ihrer eventuellen „Gefährlichkeit“ wegen – auch bekämpft werden müssen, und zwar geistig oder schlimmstenfalls sogar physisch – im Namen „Gottes“.

4. Der gemeinsame Glaube verkörpert für die Gläubigen die Wahrheit, denn er allein ist nach ihrem Verständnis direkt von Gott. Folglich müssen alle anderen religiösen Vorstellungen falsch sein, denn – so meint man – der eigene Absolutheitsanspruch schließt die Möglichkeit der Wahrheitsansprüche anderer Religionen aus.

Die Folge der religiösen Intoleranz ist beispielsweise innerhalb des Christentums unter anderem eine fortwährende Bekehrungs- und Evangelisationsbemühung, die darauf abzielt, Andersgläubige von „der Wahrheit“ zu überzeugen.

Auf dem Boden der religiösen Intoleranz kann aber auch, wie man vor allem bei bestimmten evangelikalen Gruppen in den USA und am radikalen Islamismus beobachten kann, leicht die Saat eines militanten pseudoreligiösen Fanatismus aufgehen, den die Politik, wie wir nahezu täglich beobachten können, nur allzu bereitwillig für ihre Ziele ausnutzt. Zwar liegt im Wesen jeder Art von Fundamentalismus der Mangel an geistiger Offenheit und Lebendigkeit sowie das Erstarrtsein in „Wahrheiten“, die nicht mehr hinterfragt werden (dürfen). Aber jene extreme Ausprägung des Fundamentalismus, der massiv gegen Andersgläubige hetzt und sie verfolgt, geht nach meinem Verständnis noch einen Schritt weiter: Er sieht in ihnen nicht nur Irrende, die auf den rechten Weg geführt werden müssen, sondern Feinde Gottes, Werkzeuge Satans, gegen die ihm der erbarmungslose Kampf – sogar bis zur Tötung – gerechtfertigt erscheint. Unter anderem auch damit ließe sich meines Erachtens ein wesentlicher Aspekt des Terrors islamistischer „Gotteskrieger“ gegen den „ungläubigen Westen“ erklären.

Donnerstag, 7. Mai 2009

Religion, Religiosität und Interreligiosität - Versuch der Begriffsbestimmung

Das Wort „Religion“ ist mehrdeutig. Unter „Religion“ verstehen wir zunächst die lebendige spirituelle und innerlich verpflichtende Beziehung des Men­schen zu der transzendenten Macht über allem Sein. In diesem Sinne gibt es eigentlich nur eine Religion, die in sehr vielen verschiedenen äußeren Formen und mit ganz unterschiedlichen Lehrsystemen zum Ausdruck kommt. Diese ist sozusagen die „Religion hinter allen Religionen“, die sehr früh aus ihr geworden sind. Es entstanden komplizierte Theorie­gebäude, Organisationen mit Hierarchien, Institutionen mit festgefügten Strukturen. Ein solches institutionalisiertes System wie zum Beispiel das Judentum, das Christentum und der Islam wird ebenfalls „Religion“ genannt. In diesem Sinne gibt es viele Religionen. Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, verwende auch ich das Wort „Religion“ hier mit diesen beiden Begriffsinhalten. Die jeweilige Bedeutung ergibt sich aus dem Kontext.

Mit „Religiosität“ ist die Empfänglichkeit und Empfindsamkeit des Menschen für eben diese transzendente Wirklichkeit gemeint, wie auch immer sie gedacht und erfahren wird. Religiosität ist nicht an eine bestimmte Religion gebunden, aber in jeder Religion zeigt sie sich auf eine andere, charakteristische Weise.

„Interreligiosität“ nun ist jene besondere Form der Religiosität, die nicht nur auf den eigenen Glauben beschränkt ist, sondern ein die Grenzen der eigenen Religion überschreitendes Fühlen und Ahnen, Suchen und Erfahren darstellt. Die Interreligiosität erkennt die Einheit der Reli­gionen und sucht mit Andersglaubenden den gleichberechtigten Dialog zur gegenseitigen Befruchtung.

In seinem Vortrag „Zur Theorie und Praxis der Toleranz – eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive“ beschreibt der indische Philosoph Ram Adhar Mall (*1937) das Wesen der Interreligiosität noch genauer. Es heißt da: „Interreligiosität ... ist ... nicht selbst eine Religion, der man angehören könnte. Sie ist der Name einer Haltung, Einstellung... Interreligiosität als eine alle positiven Religionen transzendierende, diese zugleich wie ein Schatten begleitende Haltung, verhindert Fundamentalis­mus und erzeugt Bescheidenheit, Toleranz, Respekt und Offenheit“. Interreligiosität macht „das eine göttliche Wahre ... in vielen positiven Religionen hörbar“, sie ermöglicht daher „einen befreienden Diskurs unter den Religionen“, und sie lehrt uns, zwischen dem religiösen Gegen­stand (z.B. Gott) und den verschiedenen Interpretationen dieses Gegen­standes zu unterscheiden.“ (Mall, Ram Adhar: Zur Theorie und Praxis der Toleranz. Eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive, Frankfurt/Main 2003, S. 13)

Hier wird eine wichtige Erkenntnis formuliert, die mir am Herzen liegt: Der Gegenstand ist nicht identisch mit irgendeiner Interpretation! Nur mit diesem Wissen wird es schließlich möglich, „daß jeder Gläubige in seiner jeweiligen Glaubensform die unmittelbare, sichere und absolute Präsenz des Numinosen erfährt, ohne Angst und Groll darüber zu empfinden, daß es Andersgläubige gibt, die das eine Göttliche ebenso erfahren“ (ebenda, S. 20).

Das „Numinose“ ist abgleitet von lat. „numen“ = göttliche Wesenheit, Gottheit (ohne persönlicheGestalt, aber mit Wirkkraft) – (Wahrig. Fremdwörterlexikon, München 1999). Für den interreligiösen Dialog bietet sich der Gebrauch des Wortes „das Numinose“ als Ersatz für das Wort „Gott“ an, um Religionen (wie etwa den Buddhismus) mit einzuschließen, in denen kein (persönlicher) Gott verehrt wird. Der Buddhismus lehnt Götter zwar nicht ab, sondern hält sie durchaus für verehrungswürdig, aber diese Götterverehrung gilt nur als etwas Vorläufiges. Die eigentliche, weil höchste und letzte Wirklichkeit, ist nicht nur nicht zu sehen, sie ist auch nicht durch Begriffe zu begreifen. (Siehe dazu auch Küng, Hans: Wozu Weltethos?. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg/Basel/Wien, 2002, S. 92)

Interreligiosität bedeutet jedoch nicht, den eigenen Glauben zu verwässern oder gar aufzugeben, denn der Dialog mit Andersglaubenden ist nur von einem festen Standpunkt der eigenen Religion aus möglich. Diese Identifikation mit der eigenen Religion führt allerdings auch sehr schnell zur Intoleranz, wenn man nicht bereit ist, dem Andersglaubenden dasselbe Recht auf Identifikation mit seiner Religion einzuräumen.