Samstag, 27. Juni 2009

Formale und inhaltliche Toleranz

Es gibt zwei Arten von Toleranz: die formale und die inhaltliche.

Formale Toleranz ist das bloße Zulassen und Hinnehmen dessen, was man für sich selber ablehnt. Man erträgt mehr oder weniger gleich­gültig oder gar gezwungenermaßen anderer Leute Meinungen und Ver­haltensweisen. Fremde Glaubensüberzeugungen läßt man unangetastet, damit verbundene religiöse Handlungen dürfen ausgeführt werden. Bezo­gen auf die staatliche Zulassung unterschiedlicher Religionen, spricht man von Glaubensfreiheit. Aber wir finden diese formale Toleranz natür­lich auch im alltäglichen individuellen Umgang der Menschen mit Andersgläubigen. Sie kann sich zum Beispiel darin zeigen, daß die Bürger einer deutschen Stadt den Bau einer neuen Moschee hinnehmen, statt öffentlich dagegen zu protestieren.

Inhaltliche Toleranz jedoch geht noch einen Schritt weiter. Es handelt sich dabei nicht nur um ein einfaches Geltenlassen fremder Überzeugungen im Sinne des Erduldens, sondern um das ehrliche Bemü­hen, das Andersartige zu verstehen, in seiner Wahrheit zu respektieren und für sich selbst fruchtbar zu machen. In allen Religionen erleben Menschen nach eigener Aussage das Numinose als eine erfahrbare Wirk­lichkeit – unabhängig davon, ob sie es nun „Gott” nennen oder welche anderen Namen sie ihm geben. Wenn man das aber akzeptiert, dann ergibt sich daraus die innere Bereitschaft, auch andere religiöse Wege ehrfürchtig als Möglichkeiten der Begegnung mit dem Göttlichen wahrzunehmen.

Wenn keine Religion im Besitz der vollkommenen göttlichen Wahrheit sein kann, dann ist es also auch die eigene Religion nicht. Wer das erst einmal erkannt hat, der nimmt Abschied vom Absolutheitsanspruch des Denkens. Alle Religionen sind vergleichbar mit den verschiedenen Wegen, auf denen man zu demselben Berggipfel aufsteigt. Wer das einsieht, hält seinen Weg nicht mehr für den einzigen, der zum Ziele führt. Ich teile die Meinung des Schweizer Theologen Hans Küng (*1928), wenn er sagt: „Es gibt verschiedene Heilswege (mit verschiedenen Heilsgestalten) zum einen Ziel, die sich sogar zum Teil überschneiden und sich gegenseitig befruchten können.“ (Küng, Hans: Wozu Weltethos?. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg/Basel/Wien, 2002, S. 129)

Wer zu dieser Erkenntnis gelangt ist, der weiß: Es genügt nicht, die anderen Religionen nur formal zu tolerieren, also ihr Vorhandensein lediglich billigend und – wenn es hoch kommt – mit Respekt zu akzeptieren, sondern man sollte vielmehr das Wahre, Kostbare und Heilige auch in ihnen zu entdecken suchen und ebenso ernst nehmen wie das Wahre, Kostbare und Heilige in der eigenen Religion. Das fällt vielen Menschen offensichtlich schwer.

Vor einem leicht aufkommenden Mißverständnis muß ich allerdings warnen: Inhaltliche religiöse Toleranz ermöglicht es zwar, eine andere Religion als Ausdruck einer ebensolchen Erfahrungswirklichkeit zu se­hen, wie es die eigene ist, sie verlangt aber keinesfalls die Preisgabe der eigenen Glaubensüberzeugung oder gar einen Bruch mit der eigenen reli­giösen Tradition!

So mahnt zum Beispiel der katholische Theologe, Benediktinerpater und Zen-Meister Willigis Jäger (*1925): „Ich werde niemandem raten, seine Religion zu verlassen, so wenig, wie ich mein Christentum verlassen möchte. Aber die Religion ist mir nur Wegweiser, nicht Ziel. Wenn ich erkenne, dass der Wegweiser sich zu wichtig nimmt und mich aufhalten möchte, werde ich ihm nicht folgen.“ (Jäger, Willigis: Die Welle ist das Meer. Mystische Spiritualität, Freiburg i. Br., 15. Aufl., 2005, S. 61) Weiterhin stellt er fest: „Erfahrbar, wirklich erfahrbar, ist Gott im Korsett der Konfessionen nicht. [...] Die Religionen sollen nebeneinander bestehen bleiben. Wir brauchen die vielen ‚Glasfenster‘, die uns etwas sagen über das Licht dahinter. Sie dürfen ihre Ansichten nur nicht verabsolutieren.“ (S. 63)

Im gleichen Sinne schreibt der Dalai Lama (*1935): “Als ich größer wurde, konnte ich peu à peu mehr über andere Weltreligionen in Erfah­rung bringen. Vor allem später, im Exil, begegnete ich zunehmend Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang anderen Glaubensrichtungen widmeten... Diese Gespräche ließen mich den ungeheuren Wert einer jeden Glaubenstradition erkennen und weckten tiefen Respekt in mir.” (Dalai Lama: Das Buch der Menschlichkeit. Eine neue Ethik für unsere Zeit, Bergisch Gladbach 2002, S. 30) Da es, wie wir gesehen haben, viele Wege zum Berggipfel gibt, muß jeder, der hinaufsteigen will, seinen eigenen Weg finden, den Weg also, der am besten zu ihm paßt. Daher fährt auch der Dalai Lama fort: “Dennoch bleibt der Buddhismus für mich selbst der wertvollste Weg; er paßt am besten zu meinem Wesen. Das bedeutet aber nicht, daß ich in ihm die Religion sehe, die sich gleichermaßen für alle Menschen eignet...” (S. 30) In diesen Worten kommt sehr klar zum Ausdruck, daß innere Toleranz keinen Auszug aus der eigenen Glaubensheimat verlangt.

Ich bekenne mich noch immer zur Religion meiner Kindheit, denn sie hat mich am meisten geprägt, und sie ist mir als erste Weg, Wahrheit und Leben gewesen. Aber ich habe auch in anderen Religionen Wege zum Leben und Wahrheiten gefunden, die mir wertvolle Hilfen waren und sind, meine eigenen Erfahrungen mit dem Göttlichen zu machen. Trotzdem bleibt die christlich geprägte Kultur meine geistige Heimat.

Nur durch inhaltliche Toleranz wird es möglich, daß die Gläubigen verschiedener Religionen auch voneinander lernen können. So schreibt zum Beispiel Eugen Drewermann: „...mir [ist] vorstellbar, daß eine bessere Religion, eine noch erweiterte Form von Religion sich bilden wird unter dem Eintrag des Islam, des Buddhismus, des Hinduismus. ... Also her mit dem Buddha, her mit Mahatma Gandhi, dem Hindu! Das mußte ich jetzt lernen, um Jesus zu verstehen. So wie die von der Kirche ihn mir beibringen wollten, hatte ich gar keine Chance, ihn zu verstehen. Heute weiß ich: Die Menschlichkeit Jesu begreife ich im Kommentar dieser asiatischen Religionen offensichtlich besser. So wurde ich Buddhist, um, wenn Sie wollen, Christus zu verstehen. Und ich bin sehr froh um diese Begegnung. Ich werde jene Synthese, mit der ich zu leben begonnen hatte, nie wieder verlassen.“ (Drewermann, Eugen: Wozu Religion?, Freiburg/Basel/Wien 2001, S.184, 224)