Freitag, 15. Mai 2009

Der subjektive und der objektive Absolutheitsanspruch

Der objektive Absolutheitsanspruch sagt: Mein Glaube ist der einzig wahre, weil die Bibel (der Papst, der Koran oder irgendeine andere Autorität) es zweifelsfrei bezeugt und weil von mehreren einander widersprechenden Aussagen nur eine wahr sein kann.

Diese Behauptung geht von dem Denkfehler aus, daß Glaubenswahrheiten ihrem Wesen nach dasselbe seien wie die Wahrheit mathematischer Gleichungen. Aber wenn jemand von sich behauptet, er allein vertrete die Wahrheit, dann ist Dialog unter gleichen Partnern nicht möglich. Daher ist jeder objektive Absolutheitsanspruch naturgemäß und zwangsläufig intolerant. Ein Dialog auf gleicher Augenhöhe ist nur dann möglich, wenn die Gesprächspartner ihre gegensätzlichen Wahrheiten als gleichberechtigt akzeptieren.

Dagegen bedeutet der subjektive Absolutheitsanspruch: Mein Glaube ist für mich unbedingt wahr. Das schließt nicht aus, daß dein Glaube für dich gleichermaßen die Wahrheit ist. Meine religiöse Erfahrung ist die für mich einzig wahre, weil ich nur von ihr (und von keiner anderen!) zutiefst berührt und verändert worden bin, weil ich nur in dieser Glaubenstradition (und in keiner anderen!) meine geistliche Heimat gefunden habe und weil nur dieser (und kein anderer!) mein Weg ist, auf dem allein ich die Verbindung mit dem Heiligen spüre. So sagt also der subjektive Absolutheitsanspruch: Mein Glaube ist meine Wahrheit, aber nicht die Wahrheit. Mein Weg ist kein besserer Weg als deiner, er ist nur ein anderer Weg zum selben Ziel. Mit dieser Einstellung könnte die Heilung der Konflikte zwischen den Religionen beginnen.

Dabei geht es keineswegs um eine Beliebigkeit des eigenen Glaubens, von dessen Richtigkeit man etwa nicht überzeugt sein müsse. Es ist – im Gegenteil! – eine der notwendigen Voraussetzungen für einen fruchtbaren interreligiösen Dialog, daß man einen klaren Glaubensstandpunkt hat und damit seine eigene Wahrheit vertritt.

Dienstag, 12. Mai 2009

Gegensätzliche Glaubenswahrheiten schließen einander nicht aus

Für den einen ist die Bibel das Wort Gottes, für den anderen ist es eine andere Heilige Schrift wie zum Beispiel der Koran, und ein dritter glaubt, daß man überall dem Göttlichen begegnen kann. Ich denke, daß alle drei auf ihren verschiedenen Wegen zu göttlichen Erfahrungen gelangen, denn ich bin davon überzeugt, daß das Göttliche nicht auf die Buchstaben irgendeines Buches reduziert und darin festgehalten werden kann. Gött­licher Geist „weht, wo er will“ (Johannes 3,8 - Zü), warum also sollte er so, wie er in Jesu Handeln wirksam war, nicht auch in anderen Religionen gegenwärtig sein können?

„Prüft aber alles, und das Gute behaltet!“ (1. Thessalonicher 5,21 - Lu) Das gilt, wie ich finde, auch für den interreligiösen Dialog. Das „Gute“ ist jener göttliche Geist, der unter anderem auch der Verständigung und dem Frieden unter den Menschen dient. Dieses „Gute“ aber ist in allen Religionen enthalten, auch wenn es in ihnen durch immer wieder andere Mythen und Legenden zum Ausdruck kommt.

Einer hält die „unbefleckte“ Empfängnis Jesu im biologischen Sinne für wahr, während ein anderer in der Jungfrauengeburt der Maria ein uraltes mythisches Motiv zur Hervorhebung der einzigartigen Besonder­heit der Person Jesu ansieht. Ich glaube, daß bei beiden Betrachtungs­weisen das Göttliche in seinem (uns verstandesmäßig unzugänglichen) Wesen dasselbe bleibt.


Der eine gründet seinen Glauben an den Christus Jesus darauf, daß am Kreuz Gott selbst für ihn gestorben sei; für den anderen sind Kreuzi­gung und Auferstehung nur Bilder für eine tiefere Wahrheit. Ich glaube, daß sich dennoch beide von der Liebe Gottes gleichermaßen umfangen und getragen wissen dürfen.

Für den einen ist es eine Glaubenswahrheit, daß Jesus der Sohn Gottes sei, während es für den anderen eine ebensolche Glaubens­wahrheit ist, daß er es nicht sein könne, weil Gott keinen Sohn habe. Ich glaube, daß beide ihrer jeweiligen Wahrheit getrost treu bleiben können, weil die Tatsache der Gegensätzlichkeit dieser beiden verschiedenen Vorstellungen nichts zu ändern vermag an der Wahrheit Gottes, die wir alle nicht kennen.

Wenn zum Beispiel immer wieder behauptet wird, daß die Muslime an einen anderen Gott glaubten als die Christen, weil Allah keinen Sohn habe, so geht dieses Argument ins Leere, denn die unterschiedliche Sicht auf die Person Jesu ergibt sich aus ver­schiedenen menschlichen Glaubensvorstellungen. Was sich gegenseitig ausschließt, das sind die Lehrgebäude und Dogmen der Menschen. Aber davon ist nach meiner Überzeugung das Göttliche völlig unabhängig. Werden also religiöse Lehrsätze nicht in einen unzulässigen Widerspruch gebracht, sondern als verschiedene gleichwertige Möglichkeiten angesehen, bildhaft von Gott zu sprechen, und als wahr für den, der sich zum jeweiligen Glauben bekennt, dann ist Gott nur noch Gott, in allen Religionen derselbe.

Deshalb können nach meiner Überzeugung Christen, Juden und Muslime sich im Glauben an denselben Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vereint wissen, solange sie sich nicht von widersprüchlichen Dogmen irritieren lassen. Das bestätigt im Kern sogar Papst Benedikt XVI. (*1927), der im Jahre 2006 in einer Rede sagte: „Judentum, Christentum und Islam glauben an den einen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde. Daraus folgt, daß alle drei monotheistischen Religionen zur Zusammenarbeit für das Gemeinwohl der Menschheit aufgerufen sind, indem sie der Sache der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt dienen“. (http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/march/documents/hf_ben-xvi_spe_20060316_jewish-committee_ge.html)

Im Widerspruch dazu steht freilich, daß der Papst in letzter Zeit den katholischen Christen wiederholt untersagt hat, mit Angehörigen anderer Religionen, z.B. Muslimen oder Juden, gemeinsam zu beten, da „jeder nur zu seinem eigenen Gott beten“ könne. Das ist übrigens auch die Auffassung der protestantischen Kirchen.

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) ging sogar so weit zu sagen, "beim Glauben ... komme alles darauf an, daß man glaube; was man glaube, sei völlig gleichgültig. Der Glaube sei ein großes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft, und diese Sicherheit ent­springe aus dem Zutrauen auf ein übergroßes, übermächtiges und un­erforschliches Wesen" (Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke, Berlin/Leipzig/Wie/Stuttgart 1924)

In diesen Zusammenhang paßt auch ein Ausspruch des anderen großen Weimaraners Friedrich Schiller (1759-1805):

Welche Religion ich bekenne?
Keine von allen, die du mir nennst!
Und warum keine?
Aus Religion
.

(Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in fünf Bänden, München/Wien 1972, Band 1, Mein Glaube, S. 307)

„Alle Religionen sind im Grunde menschheitlich“, sagt Eugen Drewer­mann. „Wir müssen sie nur aus ihren kulturellen Sondervoraussetzungen lösen, damit dieser ihr Kern wirklich frei wird.“ (Drewermann, Eugen: Wozu Religion?, Freiburg/Basel/Wien 2001, S. 186)

Wenn wir das, was die verschiedenen Religionen an Lehren unter­scheidet, einmal beiseite ließen und die ganze Aufmerksamkeit einzig auf das Wesentliche richteten, dann würde gewiß jede von ihnen sich als die „richtige“ und „wahre“ erweisen, falls die sich zu ihr bekennenden Gläubigen sich ehrlichen Herzens und frischen Mutes darum bemühten, das durch ihr Verhalten augenfällig zu beweisen!

Die Idee von solch einem „Wettbewerb“ der Religionen hat Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) in seinem „Nathan dem Weisen“[20] mit der „Ring-Parabel“ sehr eindrucksvoll veranschaulicht. Ihr Grundgedanke ist: Alle Religionen gehen auf Gottes Willen zurück und können also verschie­dene Wege zu Gott sein. Gott ist wie ein Vater, der seine drei Söhne gleich liebte, aber nur einen Ring zu vererben hatte, der über die „geheime Kraft“ verfügte, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“. Also ließ der Vater zwei zum Verwechseln ähnliche Kopien anfertigen. Als er starb, konnte keiner der Söhne wissen, ob er oder seine Brüder im Besitz des wahren Rings sind. Die drei Söhne wollten daher vor Gericht herausbekommen, welcher Ring der wahre sei. Doch „der rechte Ring ist nicht erweislich“. Es zeigt sich sogar als nicht völlig ausgeschlossen, daß der wahre Ring dem Vater verlorenging und er deshalb drei Kopien anfertigen ließ. Der Richter jedenfalls rät den drei Söhnen:

Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht! — So sagte der
Bescheidne Richter.

Bei diesem Richterspruch hat Lessing sich vermutlich vom Koran inspirieren lassen, wo es in Sure 5:49 heißt: „Und hätte Allah gewollt, Er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch Er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er euch gegeben. Wetteifert darum miteinander in guten Werken.“ (Koran. Der Heilige Qur-ân, Verlag Der Islam, Leipzig 2001)

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich will die Unterschiedlichkeit von Glaubensinhalt und Glaubenspraxis in den einzelnen Religionen bis hin zur Gegensätzlichkeit keineswegs einebnen oder gar leugnen. Aber ich messe den verschiedenen göttlichen Erfahrungen in allen Religionen den gleichen hohen Wert zu. Aus diesem Grunde erscheinen mir Kontro­versen über Glaubensfragen abwegig und bedauerlich. Deshalb finde ich es umso sympathischer, wenn zum Beispiel der Koran sagt, daß man theologische Haarspaltereien und Streitgespräche um des Gemeinsamen willen tunlichst vermeiden sollte: „Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn in der besten Art... und sagt: Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und was zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist Einer. Ihm sind wir ergeben.“ ([17], Sure 29,46 f.) Das Wort „streiten“ hat zu unrecht meist einen negativen Beiklang, denn es kann auch etwas sehr Förderliches sein, miteinander zu streiten. Streiten „in der besten Art“ heißt für mich: Beim aufmerksamen Hören auf den Dialogpartner viel über seinen Glauben – und auch über den eigenen! – zu lernen, sich zu öffnen zum Verstehen fremder Überzeugungen und die eigenen zu überprüfen. Wenn allerdings die Streitenden nicht bereit sind, die Glaubenserfahrungen des jeweils anderen respektvoll anzunehmen und als wirkliche Erfahrungen gelten zu lassen, wird Streit unfruchtbar und kann den Dialog empfindlich stören oder gar scheitern lassen.

Wie verschieden die persönlichen Glaubenserfahrungen von Men­schen sein können, zeigt uns sehr eindrucksvoll die überwältigende Fülle an unterschiedlichen religiösen Vorstellungen in den einzelnen Religio­nen, ja oft sogar selbst innerhalb ein und derselben Religion. Diese Viel­falt an Bildern und Glaubensinhalten macht es daher auch nahezu unmöglich, Begriffe und Bezeichnungen zu finden, in denen sich die all­umfassende göttliche Wirklichkeit festmachen läßt. Allein das zentrale Wort „Gott“, mit dem wir den notdürftigen, aber unverzichtbaren Versuch machen, das Unnennbare zu benennen, zeigt das recht anschaulich:

Auf Margarethens besorgte Frage

„Glaubst du an Gott?“

antwortet bekanntlich Goethes Faust ihr mit diesen vielsagenden Worten (Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke, Berlin/Leipzig/Wie/Stuttgart 1924, Band 8, S. 96f.):

„Mein Liebchen, wer darf sagen:
Ich glaub' an Gott?
Magst Priester oder Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.
Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub' ihn?
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: ich glaub' ihn nicht?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht hier unten fest?
Und steigen freundlich blickend,
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau' ich nicht Aug' in Auge dir,
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir,
Und webt in ewigem Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll' davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn' es dann, wie du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.“

Und auf Margarethens Einwand:

„Das ist alles recht schön und gut;
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,
Nur mit ein bißchen andern Worten“

erwidert Faust:

„Es sagen's allerorten
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,
Jedes in seiner Sprache;
Warum nicht ich in der meinen?“

„Alle Herzen auf der ganzen Welt sagen’s in ihrer Sprache!“ Das heißt doch auch: mit ihren jeweiligen Bildern und Legenden, mit ihren ver­schiedenen Mythen und Glaubensvorstellungen und mit ihren ganz persönlichen religiösen Erfahrungen. Dennoch haben sie alle einen Teil der göttlichen Wahrheit erfaßt, die niemand ganz erfassen kann, kein Mensch und keine Religion.

Sonntag, 10. Mai 2009

Was ist "Wahrheit" in der Religion?

Religiöser Glaube ist Vertrauen und Zuversicht auf die letztendliche Geborgenheit in einer überweltlichen Macht; er ist nicht das Für-wahr-Halten von Gottesbildern und Lehren, Mythen und Legenden. Religiöser Glaube äußert sich seinem Wesen nach in inneren Erfahrungen und archetypischen Bildern, nicht aber in der historischen und faktischen Wirklichkeit des Inhalts Heiliger Schriften.

Auf meinem Weg des Suchens bin ich allmählich zu der Einsicht gelangt, daß die Geschichte von der leiblichen Auferstehung Jesu nicht wahr sein muß, um zutiefst wahr sein zu können. Dieses Wortspiel will sagen: Eine Glaubenswahrheit muß nicht im tatsächlichen Geschehen eines beschriebenen Ereignisses gesucht werden, sondern in seiner Bedeutung für den Glaubenden. Auch das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot ist nicht wahr als tatsächliches Geschehen – und ist doch wahr in seiner tieferen Bedeutungsebene. Der namhafte Theologe, Psychotherapeut und Publizist EUGEN DREWERMANN (*1940) hat das in seiner tiefenpsychologischen Deutung dieses Grimmschen Märchens sehr anschaulich und eindrucksvoll gezeigt (DREWERMANN, EUGEN: Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, München 1992, S. 11ff.).

Der deutsche evangelischen Theologe GUSTAV MENSCHING (1901-1978) schreibt: „Wahrheit ist in der Religionswelt ... die göttliche Wirklichkeit selbst, der Menschen erlebnishaft begegnet sind. Von dieser Wirklichkeit und der Begegnung mit ihr zeugen religiöse Begriffsbildungen mythischer Art, deren ‚Wahrheit’ in dem vorhandenen Bezug zu jener Wirklichkeit liegt, nicht aber in ihrer rationalen Richtigkeit.“ (MENSCHING, GUSTAV: Toleranz und Wahrheit in der Religion, Heidelberg 1955, S. 155)

Das heißt mit anderen Worten: Die Wahrheit von Glaubensaussagen ist nicht darin zu suchen, daß die Aussage mit dem bezeichneten Sachverhalt in Raum und Zeit tatsächlich übereinstimmt, sondern sie ist zu finden in der erlebten (und weiterhin noch erlebbaren) Wirklichkeit der Erfahrung des Menschen mit dem Göttlichen. Christlicher Glaube zum Beispiel besteht dann nicht darin, die Wundererzählungen, Mythen und Legenden in den Evangelien für historische Tatsachen zu halten, sondern in der inneren Erfahrung des Gläubigen, daß aus ihnen etwas zu ihm spricht, das ihn in der Tiefe berührt und so zur erfahrenen und mithin geglaubten Gewißheit für ihn wird.

Wir müssen also unterscheiden zwischen einer
Wahrheit der objektiven Tatsache und einer Wahrheit der subjektiven Erfahrungsgewißheit.

Lebt beispielsweise ein gläubiger Christ aus der persönlichen Begegnung mit dem auferstandenen Christus, in welchem Gott Mensch geworden ist, dann ist dessen Göttlichkeit für diesen Christen ebenso erlebte Wirklichkeit und folglich persönliche Gewißheit, wie es für einen gläubigen Muslim eine erlebte Wirklichkeit und damit persönliche Gewißheit ist, daß Jesus nicht Gott sein kann. Diese beiden subjektiv erfahrbaren Wirklichkeiten schließen aber einander nicht aus, wie objektive (und also wissenschaftlich nachprüfbare) Tatsachen es täten, wenn sie einander widersprächen, sondern sie können sehr wohl gleichwertig nebeneinanderstehen. Bei beiden handelt es sich um Glaubensgewißheiten, von denen Menschen in Wahrheit zutiefst ergriffen sind. Sie sind daher im religiösen Sinne beide wahr, und „zwei Wahrheiten können einander nie widersprechen“, wie GALILEO GALILEI (1564-1642) treffend feststellte. Ein Wahrheitsurteil dagegen im wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Sinne über die Richtigkeit oder Falschheit des einen oder anderen religiösen Bekenntnisses steht niemandem zu und wäre – aus dem genannten Grunde – auch gar nicht möglich.

Daraus folgt: Der erste und entscheidende Schritt auf dem Wege zur Interreligiosität muß die Akzeptanz des Selbstverständnisses des anderen sein. Die Feststellung: „So steht es geschrieben, also ist es wahr!“ ist für den Gläubigen eine Glaubensaussage. Was da geschrieben steht, ist für ihn als göttliches Wort absolut verbindlich. Das muß der Dialogpartner respektieren. Hier ist die Achtung vor dem Glauben des anderen geboten, und dieser Glaube ist weder „richtig“ noch „falsch“, sondern die Wahrheit des Glaubenden! Diese Grundeinstellung ermöglicht überhaupt erst ein fruchtbares Gespräch unter Gleichen.

„Was ist denn Wahrheit?“ fragt JÖRG ZINK (*1922), einer der bekanntesten evangelischen Theologen der Gegenwart. „Ist Wahrheit die Richtigkeit von Glaubenssätzen? Ist Wahrheit nicht die Macht des Gottesgeistes, der [...] unser Leben durchformt und uns den Weg weist, den wir in Freiheit gehen können?“ (ZINK, JÖRG: Entdecken, was uns verbindet. Spirituelle Texte aus allen Religionen der Erde, Verlag Kreuz GmbH, Stuttgart 2008, S. 12)

Die jeweiligen Wahrheiten der Glaubenden können, wie wir wissen, sehr unterschiedlich und sogar gegensätzlich sein. Aber das hat für mich eine einfache Erklärung: Ich denke, daß die „Götter“ in den verschiedenen Religionen der Welt und ihren Heiligen Schriften unterschiedliche Versuche der Menschen sind, das Göttliche, das sie ahnen und erfahren, zu beschreiben. In ihren Gottesbildern spiegeln sich stets ihre eigenen historischen und kulturellen Hintergründe, ihre ethnischen Besonderheiten sowie ihre Erlebnishorizonte und Deutungsmuster wider. In allen diesen Gottesvorstellungen sehe ich Ausdrucksformen eines ernstzunehmenden und ehrwürdigen Vortastens zu dem Unerfaßbaren und Unbeschreibbaren. Wer dürfte sich anmaßen, sie zu bewerten? So ziemt sich für uns ein gesundes Maß an Demut und Ehrfurcht vor dem religiösen Erfahrungswissen der anderen.

Daraus schließe ich nun, daß formale Gegensätze in den Lehren der verschiedenen Religionen ohne Schwierigkeiten hingenommen werden können, denn sie lassen den Glauben in seinem Kern unberührt. Daher kommt es meines Erachtens in erster Linie darauf an, daß wir uns wieder auf den Glauben im Ursinne des Wortes zurückbesinnen, also auf

  • das Einssein mit dem Urgrund allen Seins und auf das unerschüt­terliche Vertrauen, das dem Menschen aus der Quelle des Lebens die Kraft gibt zum „Feststehen in dem, was man erhofft, (zum) Überzeugt­sein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebräer 11,1 - EÜ) und zum zuversichtlichen Abwarten des Lebensschicksals, sowie
  • das Wissen um das Gehaltensein in jeder Lebenslage und über den Tod hinaus.
Gegenüber diesem in der Erfahrung lebendigen Wesenskern des Glau­bens scheint mir das jeweilige theoretische Bezugssystem von unter­geordneter Bedeutung zu sein. Könnten wir die Religionen ihrer sämt­lichen Lehrsätze entkleiden, dann würden wir gewiß mit Staunen ent­decken, wie gleich sie sich im Grunde alle sind! Wenn wir die Heiligen Schriften der verschiedenen Religionen ohne Vorurteile lesen, dann stel­len wir fest, daß sie nicht nur zeitbezogene – und damit veraltete – Aussagen enthalten, sondern auch zeitlose Grundwahrheiten. Warum also sollten diese Schriften – trotz aller Unterschiedlichkeit und Wider­sprüchlichkeit – einander nicht auch gegenseitig bestätigen, ergänzen und befruchten?

Wie relativ der Wert religiöser Glaubenssysteme ist, sehe ich nicht zuletzt darin, daß jegliche theologische Lehre – wie überhaupt alles menschliche Reden von Gott – nur Versuch und Andeutung sein kann, Tasten und Sehnen, scheues Wagnis, Bilder für etwas zu finden, das sich unserem Begreifen und damit unseren Begriffen entzieht. Was wir über das Unaussprechbare wirklich sagen können, ist einzig der Satz: „Gott ist!“, alles weitere ist – das Wort „Gott“ selbst mit eingeschlossen – nur Gleichnis. Gleichnisse hat daher auch Jesus benutzt, um den Menschen Gott zu verkünden. „Wenn du es begriffen hast, dann ist es nicht Gott“, sagt der Kirchenvater AUGUSTINUS VON HIPPO (354-430).

Hier zeigt sich überhaupt das Grundproblem eines jeglichen Redens von Gott: Einerseits ist da die Erfahrungsweisheit des Gebotes: „Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgendein Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist“ (2. Mose/Exodus 20,4 - Zü), und des Gotteswortes aus dem Munde des Propheten Jesaja: „Mit wem wollt ihr Gott vergleichen? Gibt es irgend­etwas, das einen Vergleich mit ihm aushält?“ (Jesaja 40,18 - GN) (Ich denke, Buddhisten beispielsweise verstehen viel besser als Christen, daß die erste und letzte Wirklichkeit, die alles durchdringt, das große Geheimnis unseres Le bens, nicht mit Begriffen erfaßt werden kann, sondern daß wir es allenfalls im warten den und demütigen Schweigen zu erspüren vermögen.)

Andererseits aber können wir von unserem Erleben des Göttlichen nur dann reden, wenn es in Bild und Symbol geschieht. Ohne Bilder kommt religiöse Sprache nicht aus. Da dies nun einmal so ist, müssen wir uns auch stets dessen bewußt sein, daß es eben nur Bilder sind, die in den Religionen dazu dienen, Glaubenswahrheiten auszudrücken. Also dürfen wir nie außer acht lassen, daß alles, was Menschen in den verschiedenen Religionen jemals von Gott gesagt und niedergeschrieben haben, nur unzulängliche Versuche sind, Unsagbares zu sagen, Unbeschreibbares aufzuschreiben, religiöse Erfahrungen in unsere begrenzte menschliche Vorstellungswelt zu übertragen und in unsere untauglichen Worte zu fassen.

Obwohl Gott beispielsweise als Vater („Haben wir nicht alle denselben Vater? Hat nicht ein und derselbe Gott uns geschaffen?“ – Maleachi 2,10 - ), als Mutter („Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch“ – Jesaja 66,13 - EÜ), als Töpfer („Ist denn der Ton so viel wie der Töpfer?“ – Jesaja 29,16 - EÜ), als Hirte („Der HERR ist mein Hirte…“ – Psalm 23,1 - Lu) usw. bezeichnet wird, ist die unerfaßliche Gottheit doch mit keinem dieser Anthropomorphismen (d.h. vermenschlichenden Begriffe) iden­tisch. Alle Bilder, mit denen wir von Gott reden, entspringen zwangsläufig unserer eigenen Denk- und Erfahrungswelt. Die verschiedenen in den Heiligen Schriften der Religionen be­schriebenen Wesensmerkmale Gottes können uns also nicht sagen, wie Gott an sich ist; sie sagen uns lediglich, was er für uns ist – für die Menschen, die ihn so erfuhren und beschrieben, und für diejenigen, die diese Beschreibungen zum Grunde ihres Glaubens gemacht haben.

Wenn das aber so ist, dann allerdings dürfen wir unterschiedliche Gottesvorstellungen und Glaubenslehren in den verschiedenen Religionen nicht über die gemeinsamen spirituellen Erfahrungen stellen.

Jede Religion besteht nach meiner Erkenntnis im Grunde aus drei Ebenen. Diese sind:

  1. die Ebene der Spiritualität (also der inneren Erfahrung aus der Begegnung mit dem Numinosen sowie der jeweiligen Heiligen Schrif ten und der sakralen, rituellen Handlungen);
  2. die Ebene des Ethos (also des religiös begründeten sittlichen Bewußtseins, aus dem sich normierende moralische Regeln ergeben); und
  3. die Ebene der Dogmatik (also der als allgemeinverbindlich erklärten Interpretation des Spirituellen, die Lehren und Doktrinen).

Die ersten beiden Ebenen haben von Natur aus einen religions­übergreifenden Charakter und wirken daher verbindend. Der Wesenskern aller Religionen ist nach den Ergebnissen der religionswissenschaftlichen Forschung stets derselbe: Es geht immer um diese vier Dinge:

  1. die Anerkennung einer transzendenten Existenz als Anfang und Ende allen Seins,
  2. die Vorstellung von einer Weiterexistenz nach dem Tode,
  3. eine (wie auch immer geartete) Heilserwartung und
  4. ein Katalog von Verhaltensregeln.

Alles andere ist Dogmatik und damit religionsspezifischer Natur, wobei das eine dogmatische System keinen größeren Anspruch auf Wahrheit hat als die anderen.

Die trennende Wirkung geht einzig von der dritten Ebene aus, wenn sie in ihrer Bedeutung über die erste und die zweite gesetzt wird. Nicht die religiöse Spiritualität und das religiöse Ethos führen zu unverein­baren Gegensätzen, sondern die Dogmatik ist das Problem! Ordnet man aber die Ebene der Dogmatik den Ebenen der Spiritualität und des Ethos unter, dann kommt es nach meiner Überzeugung nicht wesentlich darauf an, welcher Religion man angehört und welches Glaubensbekenntnis man spricht, sondern allein darauf, daß man in Einklang mit dem Göttlichen gelangt und daß man nach humanistischen Grundsätzen lebt. Aber wenngleich das meine Überzeugung ist, so beansprucht sie doch keineswegs, auch für jeden anderen Menschen richtig zu sein.

Freitag, 8. Mai 2009

Ursachen und Folgen religiöser Intoleranz

Intoleranz auf religiösem Gebiet hat es immer gegeben. Sie hat viele verschiedenartige Wurzeln – anthropologische, ethnische, historische, soziologische, religionspsychologische. Vor allem sind es meines Erachtens diese vier:

1. Der gemeinsame Glaube bringt ein „Wir“-Gefühl hervor, das Einheit schafft und damit Schutz und Geborgenheit erzeugt in der Gemeinschaft und in einer (meist langen) gemeinsamen Tradition. Damit es aber ein „Wir“-Gefühl geben kann, braucht es die Existenz solcher, die nicht „wir“ sind, „die anderen“ also, die Andersglaubenden.

2. Der gemeinsame Glaube stabilisiert das soziale und oft auch das nationale Selbstwertgefühl, weil man sich als Gruppe oder Volk im Besitz der Wahrheit wähnt, über welche „die anderen“ nicht verfügen. Durch die Abwertung „der anderen“ erhöht sich also der eigene Wert, die eigene Autorität. Deshalb reagieren vor allem Gemeinschaften, die bedroht sind oder sich bedroht fühlen, besonders intolerant: Je größer die (meist nicht eingestandenen) eigenen Defizite sind, desto stärker wird die Tendenz zur kompromißlosen Rechthaberei.

3. Der gemeinsame Glaube bildet eine Grundlage für die Aggressionsableitung gegenüber den Andersgläubigen, die in die Rolle des „Sündenbocks“ gedrängt werden, auf den sich negative Energien ohne Schuldgefühl entladen können. Andersgläubige werden dann sehr schnell als Ungläubige wahrgenommen, als Irrende, die entweder missioniert oder – ihrer eventuellen „Gefährlichkeit“ wegen – auch bekämpft werden müssen, und zwar geistig oder schlimmstenfalls sogar physisch – im Namen „Gottes“.

4. Der gemeinsame Glaube verkörpert für die Gläubigen die Wahrheit, denn er allein ist nach ihrem Verständnis direkt von Gott. Folglich müssen alle anderen religiösen Vorstellungen falsch sein, denn – so meint man – der eigene Absolutheitsanspruch schließt die Möglichkeit der Wahrheitsansprüche anderer Religionen aus.

Die Folge der religiösen Intoleranz ist beispielsweise innerhalb des Christentums unter anderem eine fortwährende Bekehrungs- und Evangelisationsbemühung, die darauf abzielt, Andersgläubige von „der Wahrheit“ zu überzeugen.

Auf dem Boden der religiösen Intoleranz kann aber auch, wie man vor allem bei bestimmten evangelikalen Gruppen in den USA und am radikalen Islamismus beobachten kann, leicht die Saat eines militanten pseudoreligiösen Fanatismus aufgehen, den die Politik, wie wir nahezu täglich beobachten können, nur allzu bereitwillig für ihre Ziele ausnutzt. Zwar liegt im Wesen jeder Art von Fundamentalismus der Mangel an geistiger Offenheit und Lebendigkeit sowie das Erstarrtsein in „Wahrheiten“, die nicht mehr hinterfragt werden (dürfen). Aber jene extreme Ausprägung des Fundamentalismus, der massiv gegen Andersgläubige hetzt und sie verfolgt, geht nach meinem Verständnis noch einen Schritt weiter: Er sieht in ihnen nicht nur Irrende, die auf den rechten Weg geführt werden müssen, sondern Feinde Gottes, Werkzeuge Satans, gegen die ihm der erbarmungslose Kampf – sogar bis zur Tötung – gerechtfertigt erscheint. Unter anderem auch damit ließe sich meines Erachtens ein wesentlicher Aspekt des Terrors islamistischer „Gotteskrieger“ gegen den „ungläubigen Westen“ erklären.

Donnerstag, 7. Mai 2009

Religion, Religiosität und Interreligiosität - Versuch der Begriffsbestimmung

Das Wort „Religion“ ist mehrdeutig. Unter „Religion“ verstehen wir zunächst die lebendige spirituelle und innerlich verpflichtende Beziehung des Men­schen zu der transzendenten Macht über allem Sein. In diesem Sinne gibt es eigentlich nur eine Religion, die in sehr vielen verschiedenen äußeren Formen und mit ganz unterschiedlichen Lehrsystemen zum Ausdruck kommt. Diese ist sozusagen die „Religion hinter allen Religionen“, die sehr früh aus ihr geworden sind. Es entstanden komplizierte Theorie­gebäude, Organisationen mit Hierarchien, Institutionen mit festgefügten Strukturen. Ein solches institutionalisiertes System wie zum Beispiel das Judentum, das Christentum und der Islam wird ebenfalls „Religion“ genannt. In diesem Sinne gibt es viele Religionen. Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, verwende auch ich das Wort „Religion“ hier mit diesen beiden Begriffsinhalten. Die jeweilige Bedeutung ergibt sich aus dem Kontext.

Mit „Religiosität“ ist die Empfänglichkeit und Empfindsamkeit des Menschen für eben diese transzendente Wirklichkeit gemeint, wie auch immer sie gedacht und erfahren wird. Religiosität ist nicht an eine bestimmte Religion gebunden, aber in jeder Religion zeigt sie sich auf eine andere, charakteristische Weise.

„Interreligiosität“ nun ist jene besondere Form der Religiosität, die nicht nur auf den eigenen Glauben beschränkt ist, sondern ein die Grenzen der eigenen Religion überschreitendes Fühlen und Ahnen, Suchen und Erfahren darstellt. Die Interreligiosität erkennt die Einheit der Reli­gionen und sucht mit Andersglaubenden den gleichberechtigten Dialog zur gegenseitigen Befruchtung.

In seinem Vortrag „Zur Theorie und Praxis der Toleranz – eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive“ beschreibt der indische Philosoph Ram Adhar Mall (*1937) das Wesen der Interreligiosität noch genauer. Es heißt da: „Interreligiosität ... ist ... nicht selbst eine Religion, der man angehören könnte. Sie ist der Name einer Haltung, Einstellung... Interreligiosität als eine alle positiven Religionen transzendierende, diese zugleich wie ein Schatten begleitende Haltung, verhindert Fundamentalis­mus und erzeugt Bescheidenheit, Toleranz, Respekt und Offenheit“. Interreligiosität macht „das eine göttliche Wahre ... in vielen positiven Religionen hörbar“, sie ermöglicht daher „einen befreienden Diskurs unter den Religionen“, und sie lehrt uns, zwischen dem religiösen Gegen­stand (z.B. Gott) und den verschiedenen Interpretationen dieses Gegen­standes zu unterscheiden.“ (Mall, Ram Adhar: Zur Theorie und Praxis der Toleranz. Eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive, Frankfurt/Main 2003, S. 13)

Hier wird eine wichtige Erkenntnis formuliert, die mir am Herzen liegt: Der Gegenstand ist nicht identisch mit irgendeiner Interpretation! Nur mit diesem Wissen wird es schließlich möglich, „daß jeder Gläubige in seiner jeweiligen Glaubensform die unmittelbare, sichere und absolute Präsenz des Numinosen erfährt, ohne Angst und Groll darüber zu empfinden, daß es Andersgläubige gibt, die das eine Göttliche ebenso erfahren“ (ebenda, S. 20).

Das „Numinose“ ist abgleitet von lat. „numen“ = göttliche Wesenheit, Gottheit (ohne persönlicheGestalt, aber mit Wirkkraft) – (Wahrig. Fremdwörterlexikon, München 1999). Für den interreligiösen Dialog bietet sich der Gebrauch des Wortes „das Numinose“ als Ersatz für das Wort „Gott“ an, um Religionen (wie etwa den Buddhismus) mit einzuschließen, in denen kein (persönlicher) Gott verehrt wird. Der Buddhismus lehnt Götter zwar nicht ab, sondern hält sie durchaus für verehrungswürdig, aber diese Götterverehrung gilt nur als etwas Vorläufiges. Die eigentliche, weil höchste und letzte Wirklichkeit, ist nicht nur nicht zu sehen, sie ist auch nicht durch Begriffe zu begreifen. (Siehe dazu auch Küng, Hans: Wozu Weltethos?. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg/Basel/Wien, 2002, S. 92)

Interreligiosität bedeutet jedoch nicht, den eigenen Glauben zu verwässern oder gar aufzugeben, denn der Dialog mit Andersglaubenden ist nur von einem festen Standpunkt der eigenen Religion aus möglich. Diese Identifikation mit der eigenen Religion führt allerdings auch sehr schnell zur Intoleranz, wenn man nicht bereit ist, dem Andersglaubenden dasselbe Recht auf Identifikation mit seiner Religion einzuräumen.

Mittwoch, 6. Mai 2009

Christentum und Kommunismus

Den angeblich so grundlegenden Widerspruch zwischen Christentum und Kommunismus, der von Vertretern beider Seiten immer wieder behauptet wird, habe ich nie erkennen können! Ich weiß mich damit übrigens in sehr guter Gesellschaft: In den Büchern „Marxismus und Christentum“ und „Christliche und marxistische Ethik“ des deutschen evangelischen Theologen Emil Fuchs (1875-1931) finde ich mich bestätigt – und ebenso durch Ernesto Cardenal (*1925), den katholischen Priester, Befreiungstheologen und ehemaligen Kulturminister Nicaraguas, der schrieb: „Es gibt keine Unvereinbarkeit zwischen Marx und der Bibel. [...] Wir glauben, daß wir als Christen die ersten sein müssen, die den Kommunismus verkünden.“ (Cardenal, Ernesto: Auferstehung für die Völker, Berlin 1982, S. 51)

Dienstag, 5. Mai 2009

Islam und Islamismus

Ich finde die in letzter Zeit gebräuchlich gewordene Unterscheidung zwischen dem Islam und dem Islamismus sehr nützlich und hilfreich. Dabei ist mit dem Islam die Religion gemeint, und unter Islamismus wird die mißbräuchliche Instrumentalisierung dieser Religion zur ideologischen Fundierung extremistischer politischer Ziele verstanden.

Religion ist (nach dem indischen Philosophen Ram Adhar Mall) nicht nur die institutionalisierte Form religiösen Lebens, sondern primär die als innerlich erlebte, mystisch-spirituelle Erfahrung (Mall, Ram Adhar: Zur Theorie und Praxis der Toleranz. Eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive, Frankfurt/Main 2003). Der Islamismus ist keine Religion, er bedient sich nur der Sprache einer Religion. Er ist eine radikal-politische Ideologie, die den Anspruch erhebt, die einzig wahre Auslegung des Korans zu sein (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Islamischer_Fundamentalismus).

Diese Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus ist wichtig, damit deutlich wird: Wenn der islamistische Terror eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden in der Welt darstellt, dann kann dafür nicht der Islam verantwortlich gemacht werden. Sieht man nämlich die spirituelle und ethische Seite des Islam im Vordergrund, dann hat er als eine friedliche Religion der Hingabe des Menschen an Gott und an seinen Nächsten zu gelten, als eine Religion, die in allen privaten und öffentlichen Bereichen die Grundlage schaffen soll für ein gottgefälliges Leben. Also bedient sich der militante Islamismus des Namens „Islam“ mißbräuchlich für die Rechtfertigung von Haß und Feindschaft, Gewalt und Aggression. Menschen muslimischen Glaubens betonen immer wieder, daß nach ihrem Verständnis islamistische Terroristen und Selbstmordattentäter kein Recht hätten, sich Muslime zu nennen, weil sie sich mit ihren abscheulichen Verbrechen nicht auf die islamische Religion berufen könnten und weil sie ihr in der Welt schweren Schaden zufügten.

Das "Feindbild Islam" ist unberechtigt

Roland Geitmann (*1941), Vorsitzender der Christen für gerechte Wirtschaftsordnung e.V. (CGW), sagt:

„Nichts wäre irriger als ein ‘Feindbild Islam’. Ganz im Gegenteil: Der Islam hält uns westlichen Industrie nationen einen heilsamen Spiegel vor die Augen, in dem wir erschreckt erkennen, daß wir mit dem Raubtierkapitalismus das Gegenteil unseres christlichen Anspruchs verwirklicht haben, und das auf dem Feld der arbeitsteiligen Wirtschaft, die eigentlich auf tätige Liebe, auf ein Für- und Miteinander, angelegt ist. Deswegen ist die Begegnung mit dem Islam für uns Europäer eine welthistorische Chance, uns auf die eigenen und mit dem Islam gemeinsamen Grundlagen zu besinnen, damit künftiges Leben auf dieser Erde möglich bleibt.“

(Quelle: http://www.muslim-markt.de/interview/2008/geitmann.htm)

Interreligiöses Denken als Gebot der Stunde

Wir leben in einer Zeit, in der sich gegenseitiges Unverständnis, Vorurteile und Feindseligkeit zwischen den Religionen und Kulturen immer weiter zuspitzen. Von manchen Politikern und religiösen Führern wird ein „Kampf der Kulturen“ beschworen, und unter vielen Gläubigen breitet sich Angst aus vor dem als Bedrohung empfundenen Anderssein der fremden Religion. Aus dieser Angst entstehen hier und da auch Gefühle des Hasses und der Aggressivität. Manchen politischen Machthabern scheinen solche Gefühle gut ins Konzept zu passen, denn sie helfen dabei, bei den einfachen Menschen Feindbilder akzeptabel zu machen.

So wird vor allem eine Hysterie der Angst vor dem Islam geschürt. Die friedliche Religion des Islam wird mit dem gewaltbereiten islamistischen Fundamentalismus gleich­gesetzt und pauschal verantwortlich gemacht für den gesamten internationalen Terrorismus. Durch geduldete Provokationen - wie etwa Verunglimpfungen des Propheten Mohammed - wird absichtsvoll Öl ins Feuer der um sich greifenden Feindschaft gegossen. Die Verletzung der religiösen Gefühle von Muslimen und die Diskreditierung muslimischer Mitbürger auf vielfältigste Art ist zu einer alltäglichen Erscheinung geworden.

Ich betrachte das mit großer Sorge, und ich frage mich:

- Wie kann es sein, daß Menschen, die sich aus ihrem Glauben heraus zur jesuanischen Botschaft des Friedens und der Gewaltlosigkeit, der bedingungslosen Liebe und Annahme des Nächsten bekennen, diese unheilvolle Entwicklung widerspruchslos geschehen lassen und sogar mit unterstützen?

- Wie kann es sein, daß in manchen christlichen Gemeinden und von manchen (sonst als seriös geltenden) Theologen eine offen islamfeindliche Grundhaltung gepflegt und Angst verbreitet wird vor einer angeblich drohenden Vernich­tung des Christentums durch den Islam?

- Wie kann es sein, daß Menschen es wagen, in einem christlichen Internetauftritt den Islam als eine „kranke und gefährliche Pseudoreligion“ zu bezeichnen und damit Millionen von Muslimen zutiefst beleidigen, indem sie deren Heiligstes auf schlimmste Weise beschimpfen?

Schädigt solches Verhalten nicht erheblich das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der christlichen Religion?

Dem Argument, die andere Seite sei es doch, die den Haß säe, und von der anderen Seite gehe doch die Verschärfung des Zwiespalts aus, sei die christliche Grundüberzeugung entgegen­gehalten, daß Böses nicht mit Bösem beantwortet werden soll, und daß der Gegner beschämt wird, wenn man ihm Gutes tut. Nur so kann er erfahren, was christliche Vergebung bedeutet. Was hat kleinliche Vergeltungssucht gemein mit der Größe der christlichen Kraft, die aus dem Glauben erwächst?

Ich meine, wir haben aus unserer deutschen Geschichte unter anderem auch zu lernen, daß die Diskriminierung und Verfolgung von Andersdenkenden und Andersglaubenden zu furcht­baren Auswüchsen führen kann. Wenn wir Christen nicht rechtzeitig aufwachen und die Gefahr erkennen, wird es irgendwann zu spät sein. In dieser Zeit, da die Möglichkeit vorhanden ist, unsere Erde mehrfach zu vernichten, kann es für ein authentisches, der Bergpredigt verpflichtetes Christentum entweder nur ein friedensförderndes Handeln geben oder aber die Mitschuld an einem dritten Weltkrieg.

Deshalb möchte ich allen Menschen christlichen Glaubens zurufen:

- Laßt uns gemeinsam das Gebot der Stunde erkennen und laßt uns Frieden und Verständigung suchen mit den Gläubigen aller Religionen!

- Dabei wollen wir das Unterschiedliche und Trennende zwischen uns und den anderen über das Gemeinsame und Verbindende setzen.

- Wir wollen bedenken, daß nur dann, wenn Vergebung und Versöhnung statt Fanatisierung und Verfeindung zwischen den Religionen erreicht wird, Dialog möglich ist, und daß es ohne Dialog zwischen den Religionen keine Zukunft für die Menschheit gibt.

- Wir wollen uns keine Angst machen lassen vor denen, die einen anderen Glauben haben, sondern wir wollen sie nach ihrem Glauben und ihren Ängsten fragen, um sie zu verstehen. Nur so lassen sich Brücken bauen und Ängste auf beiden Seiten mindern.

- Wir wollen unsere Glaubenswidersprüche nicht länger in lieblosem und selbstgerechtem Streit über die "alleinige Wahrheit" vertiefen, sondern wir wollen den fremden Glauben so respektieren lernen, wie wir wollen, daß man unseren respektiert.

- Wir wollen uns eines gesunden Maßes an Demut und Ehrfurcht vor den religiösen Gefühlen und dem Erfahrungswissen der anderen befleißigen.

Nur so werden wir unserem Glauben gerecht.
Nur so werden die Angehörigen anderer Religionen uns achten statt fürchten.
Nur so wird Frieden möglich werden.

Montag, 4. Mai 2009

Was Spiritualität für mich ist

Ich maße mir nicht an, erklären zu wollen, was das Wesen der Spiritualität an sich sei, ich möchte lediglich zu beschreiben versuchen, was Spiritualität für mich ist. Da mir von jeher ein starker Hang zur Nachdenklichkeit eigen war, haben mich auch schon sehr früh die Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel des Menschenlebens beschäftigt, und sie tun es bis heute. Meine Antworten darauf waren im Laufe der Jahrzehnte – gemeinsam mit mir selbst - einem mehrfachen Wandel unterworfen, zu keinem Zeitpunkt sind sie endgültig gewesen, und sie werden es auch kaum jemals sein. Dies gilt also ebenso für meine folgenden Gedanken.

Für mich bedeutet Spiritualität,
- auf "Das von Gott" in mir zu lauschen,
- eigene innere Erfahrungen mit dem Göttlichen zu machen,
- in der Stille das Wesentliche zu suchen.

An einem freilich habe ich niemals länger und ernsthaft gezweifelt: Ebenso wie das Wissen um unsere Endlichkeit, das uns vom Tier wesenhaft unterscheidet, muß auch das tief in uns verwurzelte Ahnen, daß der Mensch mehr sei als ein rein biologisches Wesen, der Ausdruck einer Wirklichkeit sein. Seine besondere Eigenart, so war und bin ich mir sicher, gründet sich auf eine Herkunft, die neben ihrer körperlichen Existenz noch eine andere, eine seelenhafte, geisterfüllte Dimension hat, und auf eine von dieser Herkunft abgeleitete Bestimmung, die das Leben des Individuums einzigartig und unersetzlich wertvoll macht. Dabei bin ich mir der begrifflichen Vieldeutigkeit und damit auch Mißverständlichkeit von "Seele" und "Geist" durchaus bewußt, aber mir stehen keine anderen üblichen Bezeichnungen für das zur Verfügung, was ich meine. Was ich ausdrücken möchte, läßt sich wohl auch viel besser mit Bildern als mit Wörtern sagen. Besonders eindrucksvoll in ihrer Bildhaftigkeit finde ich die Vorstellung von der "höheren" Herkunft und Bestimmung des Menschen in dieser bekannten alten hebräischen Überlieferung erzählt, wo es heißt:

"Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen"
(1. Mose/Genesis 1,26 f. und 2,7 - Lu84).

Das in der Luther-Übersetzung der Bibel verwendete Wort "Odem" steht für hebräisch "ruach", ("Windhauch", "Geist") und entspricht etwa dem lateinischen Ausdruck "spiritus". Davon schließlich leiten sich "spirituell" und "Spiritualität" ab. Der Mensch wird also erst durch die Einhauchung des göttlichen Geistes zum Menschen, und diese Herkunft aus Gottes Geist ist zugleich auch die Bestimmung des Menschen zur Gottesebenbildlichkeit. Die freilich verwirklicht sich in jedem Individuum auf eine ganz einmalige und unvergleichliche Weise.

"Spiritualität" bezeichnet daher für mich zunächst die Natur des Menschen, ein "geistgezeugtes", also spirituelles Wesen zu sein, dann aber auch dessen Ahnung davon und schließlich sein Bemühen, die Verbindung zu dem Geist, aus dem er kommt und der ihn bestimmt, wahrzunehmen und bewußt herzustellen.

Ich nun habe die Erfahrung gemacht, daß dieser göttliche Geist, in welchem ich die Quelle meines Seins erkenne, nicht nur außerhalb von mir existiert, sondern auch in mir selbst. Das Meer, so beschreibt es sehr treffend Willigis Jäger, ist zugleich die Welle, und die Welle ist das Meer. Auch die von George Fox verwendete Formulierung "That of God in Every Human Being" ("Das von Gott in jedem Menschen") ist eine gute Möglichkeit, meine Vorstellung auszudrücken, daß ich in Gott bin, wie Gott in mir ist und in einem jeden von uns. Ich denke, wir können überhaupt erst dann einander als Brüder und Schwestern erkennen, wenn wir uns durch den göttlichen Geist in uns allen miteinander verbunden wissen, denn "Das von Gott in jedem Menschen", das "innere Licht", wie Fox es auch nennt, ist uns allen innewohnend, auch wenn es durch unsere Lebensführung und durch unser Tun manchmal für andere nahezu unsichtbar werden kann. So bedeutet Spiritualität für mich unter anderem, mit dem Geist in mir selbst und überall außerhalb von mir immer wieder bewußt in Verbindung zu kommen und ihn wahrzunehmen in den Menschen, denen ich begegne, ganz gleich, in welchem Verhältnis sie zu mir stehen.

Spiritualität ist nach meinem Verständnis eng verbunden mit einem immerwährenden Suchen. Ich bezeichne mich gern als einen "Suchenden", als einen Menschen, der sich nie am Ziele glaubt, sondern lebenslang auf dem Wege seiend; ich sehe mich weniger als Wissenden denn als Fragenden. Das Göttliche, so glaube ich, offenbart sich nicht in den Kategorien unseres menschlichen Denkens und also nicht, wie unser Verstand es erfassen könnte. Wäre es anders, gäbe es keine Glaubenszweifel - aber auch keinen Glauben. Wer meint die Wahrheit gefunden zu haben, läßt mich vermuten, daß er einer großen Selbsttäuschung unterliegt.

Ich wage nicht zu behaupten, ich könnte, wenn ich die Vokabel "Gott" verwende, genaue Vorstellungen damit verbinden. Aber ich empfinde das nicht als einen Mangel, denn ich denke, daß das, was wir "Gott" nennen, ohnehin immer ganz anders sein wird als alle unsere Vorstellungen. Von "Gott" und "dem Göttlichen" spreche ich also im Grunde nur, weil ich kein anderes Wort für das habe, das ich ohnehin nicht beschreiben kann. Was ich "Gott" nenne, ist meine ganz persönliche innere Erfahrung, die sich im Laufe des Lebens entwickelt und verändert hat. Für mich ist Gott nicht ein personales Wesen, sondern ein unpersönliches Bewußtsein, ein allumfassendes Sein, das mich umhüllt und trägt, das mir ein starkes Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit gibt - eine tragende, beruhigende und tröstende Sicherheit in meinem Innern, die von äußeren Umständen unabhängig ist. Aber bei dieser meiner Erfahrung mit dem Göttlichen empfinde ich auch Achtung und Ehrfurcht vor dem Glauben von Menschen, die ein ganz anderes Gottesbild haben. Ich glaube nicht an die buchstäbliche Wahrheit von Worten aus Heiligen Büchern und auch nicht an menschengemachte Lehrmeinungen, aber ich glaube mit tiefem und demütigem Vertrauen und Gehorsam an den einen Gott, den ewigen Ursprung allen Seins, der in allen Religionen derselbe ist, ungeachtet der Tausende sich widersprechenden religiösen Theorien.

Gott ist für mich nicht zwischen den beiden Deckeln eines Buches konserviert. Ich finde, man sollte nicht meinen, er lasse sich von uns auf ein paar hunderttausend Wörter in Heiligen Schriften reduzieren und in Katechismen einsperren. Dort finde ich ihn ja auch nicht selbst, sondern nur Bilder und Vorstellungen, die Menschen sich von ihm gemacht haben. Gewiß, er kann diese Texte benutzen, um zu mir zu sprechen, und das erlebe ich auch. Aber ich finde seine Botschaft an mich nicht weniger in anderen Büchern, und nicht nur in den Büchern der Religionen, ich spüre seine Gegenwart an allen Orten - in der Stille, in der Natur, in der Kunst, in anderen Menschen, in mir selbst. Da überall bin ich ihm oft sehr viel näher als bei der Bibellektüre. So gewinne ich meine ganz direkten persönlichen Gotteserfahrungen.

Wie wir von den Mystikern wissen, kann man eigene Erfahrungen mit Gott freilich nur machen, wenn man sehr aufmerksam auf die innere Stimme hört. Was diese göttliche Stimme tief drinnen in mir sagt, empfinde ich stets als stimmig, und deshalb wage ich es, mich darauf einzulassen. Aber ich muß für sie offen sein und aufnahmebereit, denn sie spricht sehr leise und wird in unserer lauten Welt leicht übertönt. Diese Offenheit und Achtsamkeit nenne ich eine spirituelle Haltung, denn sie hilft mir, zum Wesentlichen vorzudringen - beispielsweise von den unangenehmen Seiten meines Nächsten zum Grunde seines Menschseins, von den ärgerlichen Erscheinungen zu den Dingen, für die ich dankbar sein kann, von der Oberflächliche des Alltags in die Tiefe, aus der meine Lebenskraft kommt.

Die Gottesbilder der Menschen

Der griechische Philosoph und Dichter Xenophanes von Kolophon (um 570 bis um 470 v. Chr.) sagt:
„Wenn die Pferde Götter hätten, sähen diese wie Pferde aus“.

Wer oder was ist Gott?

Als Herr Z. gefragt wurde, ob er an Gott glaube, bekannte er: „Ich habe keine Ahnung, wer oder was Gott ist. Zwar weiß ich aus eigenem Erleben, daß ihn (sie? es?) gibt - ebenso wie Menschen aller Zeiten und aller Völker es wußten, wissen und wahrscheinlich immer wissen werden. Aber es ist mir völlig unbekannt, auf welche Weise diese unbestreitbare Realität existiert, die wir von alters her ‚Gott‘ zu nennen pflegen. Nur eines halte ich für sicher: Niemand kann darüber ein Wissen haben. Denn ist Gott Gott, dann existiert er auf gänzlich andere Weise, als alles, das außer ihm existiert.“

Sonntag, 3. Mai 2009

Ein Name für meine innere Erfahrung

Lieber N.,

[...]
Du hast mich nach meinem Gottesbild gefragt, und ich suche schon eine ganze Weile nach Worten, die eine einigermaßen verständliche Antwort abgeben könnten.

Eigentlich habe ich ja gar kein Bild von Gott, denn ich denke, daß das Göttliche immer ganz anders sein wird als alle Vorstellungen, die wir uns ausdenken können. Deshalb kann ich auch Gottesbilder von anderen Menschen und die in der Bibel nicht einfach so für mich übernehmen. Ich habe eben meine ganz eigene Beziehung zu dem, was ich "Gott" nenne.

Ich könnte es mir leicht machen und einfach sagen: Gott ist ein Name, den ich meiner inneren Erfahrung gebe. Aber das würde Dir nicht viel nützen, denn Du kennst ja meine innere Erfahrung nicht. Also mache ich es mir nun ein bißchen schwerer und hole ein wenig aus.

Solange ich denken kann, habe ich eine starke Sehnsucht in mir getragen. Eine Sehnsucht, die sich im Laufe der Jahrzehnte zusammen mit mir in ihrer Form zwar kontinuierlich verändert hat, in ihrem Inhalt sich aber stets treu geblieben ist. Es ist eine Sehnsucht, von der ich mir sehr lange ganz sicher war, daß sie sich, solange ich lebe, nicht erfüllen wird. Und obgleich - oder gerade weil? - ich das wußte, konnte ich mich erst recht nicht von ihr trennen. Eigenartig, nicht?

Ich sehnte mich nach einer Sicherheit, die durch nichts erschüttert werden kann, durch kein unglückliches Ereignis und durch keinen unvorhergesehenen Zwischenfall. Ich sehnte mich nach der Gewißheit, daß mir nichts Vernichtendes geschehen und daß immer alles zu einem guten Ende kommen wird. Ich sehnte mich nach einer Geborgenheit, von der ich mich für immer behutsam und zärtlich umhüllt weiß. Ich sehnte mich danach, mit allen meinen zahlreichen menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten bedingungslos angenommen zu sein und endlos geliebt zu werden, ohne daß ich mich dieser Liebe würdig erweisen muß. Ich sehnte mich danach, zu wissen, wer ich bin, woher ich kam und wohin ich gehe, worin der tiefe Sinn meines Lebens - und des Lebens überhaupt – besteht und was meine ganz besondere Bestimmung in diesem Leben ist, die mich einmalig und einzigartig wertvoll sein läßt.

Eine solche Sehnsucht, das schien mir langezeit klar zu sein, konnten nur wirklichkeitsfremde Träumer hegen. Realisten, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen, würden dafür nur ein Kopfschütteln übrig haben oder ein mitleidiges Lächeln.

Aber dann habe ich irgendwann angefangen zu spüren, daß da - ganz tief in mir - etwas ist, das mir immer wieder ganz leise sagte: Deine Sehnsucht ist durchaus nicht lächerlich und auch nicht unerfüllbar! Sie wohnt in allen Menschen. Sie verraten es einander nur fast nie, weil sie sich ihrer schämen. Bei manchen ist sie freilich ganz verborgen und vergessen oder gar völlig verschüttet von Verbitterung und Resignation, aber sie stirbt nicht. Bis zum letzten Atemzug nicht. Jeder Augenblick höchsten Glücksgefühls läßt sekundenlang im Menschen das heftige Begehren aufblitzen, er möge ewig dauern; jede große Liebe erweckt in ihm das leidenschaftliche Verlangen, sie möge niemals vergehen.

Ich dachte an die Worte in Goethes „Faust“: Zum Augenblicke möcht' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!, und ich erkannte, wie recht die Stimme in meinem Innern hatte, und zugleich empfand ich einen Hauch von Vorgeschmack von der Ewigkeit des Augenblicks.

Von da an begann ich, aufmerksamer zu werden für das Verborgene. Und ich konnte mitten in der allgegenwärtigen Unsicherheit, die unser vergängliches Glück, unser Haben und Sein fortwährend bedroht, immer deutlicher eine ganz neue Sicherheit wahrnehmen. Eine tragende, beruhigende und tröstende Sicherheit in meinem Innern, die nicht von äußeren Umständen abhängig ist und die auch in leidvollen Zeiten dableibt und sogar dann, wenn der Boden unter meinen Füßen wankt. Mitten in der Unsicherheit konnte ich immer deutlicher die Geborgenheit spüren, mit der ich umhüllt bin und die nicht zuläßt, daß ich verloren gehe. Mitten in der Endlichkeit konnte ich die Unendlichkeit fühlen, mitten in der Enge die Weite, mitten in der Angst das Gerettetsein, mitten in der Verletzung die Unversehrtheit. Und immer klarer wurde mir das absolute Ja bewußt, das zu mir gesagt ist und das mich so annimmt, wie ich bin, und mich bedingungslos liebt. Und ich hatte das Gefühl, daß diese Liebe zu mir immer dagewesen war. Von meinem Werden im Mutterleib an. Sogar dann, wenn ich mich selbst gehaßt und verurteilt hatte, hat diese Liebe zu mir gestanden und mich verteidigt und freigesprochen, ich hatte es nur nie wahrgenommen. Und sie war es auch gewesen, die mich mit starken Armen durch alles Schwere hindurchgetragen und bewahrt hat, und sie würde mich auch in Zukunft nicht fallenlassen. Auch im Tode nicht und nicht darüber hinaus.

Ich habe gelernt, auf diese leise innere Stimme, die zu oft von den vielen lauten, die auch in mir sind, übertönt wird, immer aufmerksamer zu achten. Wenn ich ganz still werde, kann ich sie manchmal hören. Und was diese Stimme sagt, empfinde ich stets als stimmig. Ich kann mich getrost darauf verlassen und mein Handeln danach ausrichten. Dieses Gefühl hat mich bisher nie getrogen.

Die ganz besondere Stimme in meinem Innern hat mich gelehrt, zuversichtlich ja zu sagen zu dem, was ich hinnehmen muß; mutig zu sein, wenn es darauf ankommt, gegen Widerstände das Gute zu unterstützen; hoffnungsvoll zu sein in schwierigen Lebenssituationen. Sie hat mich das Staunen gelehrt über die unbegreiflichen Wunder der Natur; sie hat mich gelehrt, achtsamer umzugehen mit Menschen und mit mir selber, und sie hat mich gelehrt, dankbar zu sein für die vielen Kostbarkeiten, an denen ich teilhaben darf und die ja nicht selbstverständlich sind.

Natürlich mache ich auch weiterhin jeden Tag Fehler und versage immer wieder aufs neue. Aber das Großartige ist, daß ich Vergebung spüre, wenn ich schuldig geworden bin und wenn mir das von Herzen leid tut, und daß jeder Tag mir als eine neue Chance geschenkt ist. Solange ich lebe.

So hat meine Sehnsucht also doch ihre Erfüllung erfahren und erfährt sie täglich neu. Und dieser meiner inneren Erfahrung gebe ich den Namen "Gott".
[...]

Einen herzlichen Gruß sendet Dir
E.

Samstag, 2. Mai 2009

Glaube als eine Art zu leben

1

Glaube ist nach meiner Erfahrung etwas Lebendiges, etwas, das wächst und sich verändert und ständig im Werden bleibt. Ich denke, man kann ihn nicht ein für allemal vermittelt bekommen und dann ein Leben lang so behalten. So hat sich auch mein Glaubensverständnis im Laufe der Jahrzehnte gewandelt.

In meiner Kindheit und Jugend hieß "Glaube" für mich: Worte und Sätze für wahr zu halten. Es war streng verboten anzuzweifeln, daß Gott genau so gesprochen hat, wenn geschrieben stand: "Und Gott sprach...". Es durfte nicht in Frage gestellt werden, daß Jesus der "eingeborene" Sohn Gottes ist; ich hatte ohne Wenn und Aber seinen Kreuzestod als Opfer für mich persönlich anzunehmen und gewiß zu sein, daß dieser Jesus tot war und nun doch lebte und meine Gebete hörte. Alles andere wäre "Sünde" gewesen, für die ich am Ende meiner Tage in die Hölle kommen würde. Glaube mußte nach dem, was ich gelernt hatte, "blind" sein, hatte also nicht auf persönlicher Erfahrung und Einsicht zu beruhen, sondern auf der geistigen Leistung, etwas für umso wirklicher zu halten, je absurder es erschien. Wenn ich tatsächlich glaubte, daß Maria nach der Geburt ihres ersten Sohnes noch Jungfrau war, daß der Pfarrer durch Worte Brot und Wein in den wirklichen Leib und in das wirkliche Blut Jesu verwandelt, und daß Gott alle Menschen in die ewige Verdammnis schicken wird, die von diesem Glauben abgefallen sind oder nie zu ihm gefunden haben, dann würde ich damit mein postmortales Seelenheil gewinnen. So fühlte ich mich viele Jahre in dem Konflikt gefangen, auf diese Weise glauben zuwollen - und doch immer weniger zu können, und dieser Glaube, der mich eigentlich befreien sollte, machte mir zunehmend Angst.

Zwar erfuhr ich später zu meiner Erleichterung, daß man die Bibel nicht wortwörtlich zu verstehen habe, und daß das ewige Leben nicht dem Glauben an sie, sondern an Gott erwachse, aber wie hatte ich mir "Gott" vorzustellen? Wie Jesus, hieß die Antwort, denn in diesem Menschen würde mir Gott begegnen. Mein Glaube an Gott müsse also Glaube an Jesus, den Auferstandenen, sein, "sitzend zur Rechten Gottes, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten". Aber was wußte ich denn von diesem Jesus wirklich? Was in den Evangelien war historisch gesichert und was spätere - teilweise vielleicht sogar verfälschende - Interpretation und Legendenbildung? Welche Worte waren tatsächlich aus seinem Munde gekommen, und welche hatte man ihm viel später hineingelegt? Und was sollte ich mir genau vorstellen beim Lesen und Nachsprechen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses?

Viele weitere Jahre beschäftigte mich die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob Glaube vielleicht auch etwas ganz anderes sein könnte. Ich suchte bei allen christlichen und nichtchristlichen Gemeinschaften, über die ich mich informieren konnte, aber überall mußte man "an" etwas glauben, an Worte, Sätze, Dogmen, Theorien. Von diesem Glauben "an" etwas wußte ich jedoch, daß er nicht verbindet, sondern spaltet und oft gar verfeindet, also wohl doch mehr menschlich ist als göttlich. Dabei mußte doch, so sagte mir ein starkes Gefühl, aus dem einen göttlichen Geist ein Glaube hervorgehen, der kein Theoriegerüst braucht, sondern - ähnlich der Liebe - einfach nur ist, ohne Beschreibungen und Erklärungen, Herleitungen und Begründungen.

2

So kam ich allmählich zu dem, was "Glaube" mir jetzt bedeutet: Statt eines Für-wahr-Haltens von Begriffen und Aussagen, statt eines Glaubens, der in ein System von Lehrsätzen und Definitionen, in ein ganzes theologisches Gedankengebäude gleichsam eingesperrt ist, verstehe ich "Glaube" heute als eine Art zu leben. Für mich ist Glaube vor allem der Mut, in einer unvollkommenen Welt mit ihren Konflikten und Widersprüchen und entgegen allen unseren schlimmsten Erfahrungen und existentiellen Bedrohungen immer wieder Vertrauen zu wagen, zu lieben, Ängste zu überwinden und Grenzen aufzuheben. "Das von Gott" in mir gibt mir den Mut, jenes Vertrauen zu wagen, das in den Worten liegt, die Jahwe zu Josua sagt: "Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und unverzagt seist. Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst." (Josua 1,9) Glaube ist für mich die "feste Zuversicht auf das, was man hofft"(Hebräer 11,1), das optimistische Abwarten des Laufs aller Dinge, das Wissen um meine Geborgenheit und die aller Menschen und der ganzen Schöpfung im göttlichen Geist. Diese grundsätzliche und endgültige Geborgenheit endet nach meiner und der Erfahrung vieler anderer Menschen auch dort nicht, wo Not, Leid, Schmerz und Tod uns schwere Last auferlegen.

Es gibt eine Anekdote über Martin Luther, in der erzählt wird, daß dieser zusammen mit seinem Gefährten Philipp Melanchthon anläßlich einer Kirchenvisitation in Sachsen an die Hochwasser führende Elbe gekommen sei. Die von den Fluten schon stark in Mitleidenschaft gezogene Holzbrücke ließ befürchten, daß man auf ihr kaum mehr heil ans andere Ufer gelangen könnte. Aber als Melanchthon vorschlug, einen Umweg zu machen und bis zur nächsten Brücke zu wandern, soll Luther ohne Zögern die Planken betreten und dabei gesagt haben: "Domini sumus - in nominativo et in genitivo!" (Das Wortspiel bedeutet frei übersetzt etwa: Wir sind Herren - und gehören dem Herrn!)

"Religion" zu unterscheiden. Er nennt den Menschen "religiös", dessen Gottesbeziehung eine vorwiegend metaphysische ist und der das Hauptziel seiner Religion im Leben nach dem Tode sieht. Dazu muß er Weisungen befolgen, deren Einhaltung ihm das jenseitige Seelenheil verspricht, und er tut es in Form dessen, was bei Luther das "Gerechtwerden" aus (frommen) "Werken" heißt. Der Glaube hingegen ist nicht auf Jenseitiges gerichtet, von dem wir ohnehin nichts wissen können, sondern auf diese Welt. Wer glaubt, lebtjetzt. Er nimmt seine Aufgaben im Leben nicht deshalb wahr, weil es ihm darauf ankommt, sich das ewige Leben zu sichern, sondern er setzt sich mutig für das Wohle seines Nächsten und der Schöpfung ein, um seiner Verantwortung gerecht zu werden und zu bewirken, was not tut.

In jeder Religion kennt man Personen, die diesen Glauben als eine Art zu leben praktiziert haben, und denen es nachzufolgen gilt. Der Jesus der Evangelien ist ein solcher Mensch. Sein Glaube war - nach dem Bild, das wir von ihm haben - nicht dogmatisch, sondern flexibel und situationsentsprechend, lebensnah und bedürfnisgerecht. Der Mensch, so soll er zum Beispiel gesagt haben, sei nicht für den Sabbat gemacht, sondern der Sabbat sei für den Menschen da (Markus 2,27). Und wenn der gesetzestreue Jude dem Tempel opferte, was eigentlich seine armen Eltern dringender gebraucht hätten, dann war Jesus dafür, einer solchen Regel nicht zu folgen (Markus 7,11). Er meinte, daß im Konfliktfalle die Gesetze der Menschlichkeit über den von Menschen geschaffenen religiösen Weisungen zu stehen hätten.

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"Ihr seid meine Freunde...", sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums (Johannes 15,14) zu denen, die das Göttliche, das er konsequent verkörpert hat, auch in ihrem Leben zu verwirklichen suchen. Er verlangt von seinen Freunden nicht, sich starren Regeln zu unterwerfen und an Lehrsätze zu glauben, sondern den Glauben zu leben, so wie er ihn vorgelebt hat. Ich denke, daß diese Art zu leben der Glaube ist, den Paulus im Sinne hat, wenn er an die Galater schreibt: "Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen" (Galater 6,2). "Gottesdienst", wie Jesus ihn gemeint haben könnte, ist nach meinem Verständnis nicht das, was an einem Tag der Woche kultisch zelebriert wird, sondern das, was auf der Straße von Jerusalem nach Jericho geschieht (Lukas 10, 29-37), das, was Menschen jeden Tag und überall aus Liebe ihren Nächsten Gutes tun.

So verstandener Glaube, der aus der Kraft des Göttlichen in uns gespeist wird, ist also überall zu finden - bei Menschen jeder religiösen Tradition, aber auch außerhalb jeglicher religiöser Gemeinschaft. Wo Menschen in diesem Sinne glauben, da geschieht das einzig Wesentliche: die Begegnung mit Gott im Mitmenschen. Dieser Glaube ist überall, wo wir jemanden bedingungslos annehmen, statt ihn abzuweisen und zu verurteilen; er ist da, wo einer dem andern unverdient Halt und Hilfe gewährt, ihm Mut macht und Zuspruch gibt, ihn tröstet und stärkt, ihm Zeit, Liebe und Heilung schenkt - wie der barmherzige Samariter, der alle Bedenken in den Wind schlägt und sich mit seiner ganzen Menschlichkeit seinem Nächsten zuwendet. Das zutiefst mitmenschliche Verhalten in dieser Gleichnisgeschichte (Lukas 10,29-37), das von Jesus als vorbildhaft gekennzeichnet wird, ist das, was dem Göttlichen in uns entspricht. Zu diesem Allerwesentlichsten aber bedarf es keiner fixierten Regeln und Weisungen, keiner heiligen Grundsätze und Lehren. Deshalb wissen sich Menschen innerhalb und außerhalb aller Religionen in diesem Glauben verbunden. Unter diesem Aspekt tritt die Frage nach der religiösen Gemeinschaft, der jemand angehört, und nach deren Selbstverständnis in den Hintergrund. Der Glaube, der eine Art zu leben ist, kennt keine institutionellen Ein- und Abgrenzungen. Die verschiedenen Religionen geben Gott unterschiedliche Namen - und sind doch sämtlich von demselben göttlichen Geist erfüllt, der alle Menschen eint.

Ich muß, so meine ich, nicht beschreiben können, an wen oder was ich glaube, denn allein mein Tun und Verhalten, meine Art zu leben ist mein Glaube. Er spricht für sich und ist das unsichtbare Erkennungs-Abzeichen, das alle Menschen tragen, die zu Jesu "Freunden" gezählt werden können. Mein Glaube bindet mich nicht an Worte und Sätze, an Bekenntnisse und Definitionen, er macht mich frei von alldem. "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Der Herr ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit." (2. Korinther 3,6.17)