Samstag, 2. Mai 2009

Glaube als eine Art zu leben

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Glaube ist nach meiner Erfahrung etwas Lebendiges, etwas, das wächst und sich verändert und ständig im Werden bleibt. Ich denke, man kann ihn nicht ein für allemal vermittelt bekommen und dann ein Leben lang so behalten. So hat sich auch mein Glaubensverständnis im Laufe der Jahrzehnte gewandelt.

In meiner Kindheit und Jugend hieß "Glaube" für mich: Worte und Sätze für wahr zu halten. Es war streng verboten anzuzweifeln, daß Gott genau so gesprochen hat, wenn geschrieben stand: "Und Gott sprach...". Es durfte nicht in Frage gestellt werden, daß Jesus der "eingeborene" Sohn Gottes ist; ich hatte ohne Wenn und Aber seinen Kreuzestod als Opfer für mich persönlich anzunehmen und gewiß zu sein, daß dieser Jesus tot war und nun doch lebte und meine Gebete hörte. Alles andere wäre "Sünde" gewesen, für die ich am Ende meiner Tage in die Hölle kommen würde. Glaube mußte nach dem, was ich gelernt hatte, "blind" sein, hatte also nicht auf persönlicher Erfahrung und Einsicht zu beruhen, sondern auf der geistigen Leistung, etwas für umso wirklicher zu halten, je absurder es erschien. Wenn ich tatsächlich glaubte, daß Maria nach der Geburt ihres ersten Sohnes noch Jungfrau war, daß der Pfarrer durch Worte Brot und Wein in den wirklichen Leib und in das wirkliche Blut Jesu verwandelt, und daß Gott alle Menschen in die ewige Verdammnis schicken wird, die von diesem Glauben abgefallen sind oder nie zu ihm gefunden haben, dann würde ich damit mein postmortales Seelenheil gewinnen. So fühlte ich mich viele Jahre in dem Konflikt gefangen, auf diese Weise glauben zuwollen - und doch immer weniger zu können, und dieser Glaube, der mich eigentlich befreien sollte, machte mir zunehmend Angst.

Zwar erfuhr ich später zu meiner Erleichterung, daß man die Bibel nicht wortwörtlich zu verstehen habe, und daß das ewige Leben nicht dem Glauben an sie, sondern an Gott erwachse, aber wie hatte ich mir "Gott" vorzustellen? Wie Jesus, hieß die Antwort, denn in diesem Menschen würde mir Gott begegnen. Mein Glaube an Gott müsse also Glaube an Jesus, den Auferstandenen, sein, "sitzend zur Rechten Gottes, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten". Aber was wußte ich denn von diesem Jesus wirklich? Was in den Evangelien war historisch gesichert und was spätere - teilweise vielleicht sogar verfälschende - Interpretation und Legendenbildung? Welche Worte waren tatsächlich aus seinem Munde gekommen, und welche hatte man ihm viel später hineingelegt? Und was sollte ich mir genau vorstellen beim Lesen und Nachsprechen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses?

Viele weitere Jahre beschäftigte mich die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob Glaube vielleicht auch etwas ganz anderes sein könnte. Ich suchte bei allen christlichen und nichtchristlichen Gemeinschaften, über die ich mich informieren konnte, aber überall mußte man "an" etwas glauben, an Worte, Sätze, Dogmen, Theorien. Von diesem Glauben "an" etwas wußte ich jedoch, daß er nicht verbindet, sondern spaltet und oft gar verfeindet, also wohl doch mehr menschlich ist als göttlich. Dabei mußte doch, so sagte mir ein starkes Gefühl, aus dem einen göttlichen Geist ein Glaube hervorgehen, der kein Theoriegerüst braucht, sondern - ähnlich der Liebe - einfach nur ist, ohne Beschreibungen und Erklärungen, Herleitungen und Begründungen.

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So kam ich allmählich zu dem, was "Glaube" mir jetzt bedeutet: Statt eines Für-wahr-Haltens von Begriffen und Aussagen, statt eines Glaubens, der in ein System von Lehrsätzen und Definitionen, in ein ganzes theologisches Gedankengebäude gleichsam eingesperrt ist, verstehe ich "Glaube" heute als eine Art zu leben. Für mich ist Glaube vor allem der Mut, in einer unvollkommenen Welt mit ihren Konflikten und Widersprüchen und entgegen allen unseren schlimmsten Erfahrungen und existentiellen Bedrohungen immer wieder Vertrauen zu wagen, zu lieben, Ängste zu überwinden und Grenzen aufzuheben. "Das von Gott" in mir gibt mir den Mut, jenes Vertrauen zu wagen, das in den Worten liegt, die Jahwe zu Josua sagt: "Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und unverzagt seist. Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst." (Josua 1,9) Glaube ist für mich die "feste Zuversicht auf das, was man hofft"(Hebräer 11,1), das optimistische Abwarten des Laufs aller Dinge, das Wissen um meine Geborgenheit und die aller Menschen und der ganzen Schöpfung im göttlichen Geist. Diese grundsätzliche und endgültige Geborgenheit endet nach meiner und der Erfahrung vieler anderer Menschen auch dort nicht, wo Not, Leid, Schmerz und Tod uns schwere Last auferlegen.

Es gibt eine Anekdote über Martin Luther, in der erzählt wird, daß dieser zusammen mit seinem Gefährten Philipp Melanchthon anläßlich einer Kirchenvisitation in Sachsen an die Hochwasser führende Elbe gekommen sei. Die von den Fluten schon stark in Mitleidenschaft gezogene Holzbrücke ließ befürchten, daß man auf ihr kaum mehr heil ans andere Ufer gelangen könnte. Aber als Melanchthon vorschlug, einen Umweg zu machen und bis zur nächsten Brücke zu wandern, soll Luther ohne Zögern die Planken betreten und dabei gesagt haben: "Domini sumus - in nominativo et in genitivo!" (Das Wortspiel bedeutet frei übersetzt etwa: Wir sind Herren - und gehören dem Herrn!)

"Religion" zu unterscheiden. Er nennt den Menschen "religiös", dessen Gottesbeziehung eine vorwiegend metaphysische ist und der das Hauptziel seiner Religion im Leben nach dem Tode sieht. Dazu muß er Weisungen befolgen, deren Einhaltung ihm das jenseitige Seelenheil verspricht, und er tut es in Form dessen, was bei Luther das "Gerechtwerden" aus (frommen) "Werken" heißt. Der Glaube hingegen ist nicht auf Jenseitiges gerichtet, von dem wir ohnehin nichts wissen können, sondern auf diese Welt. Wer glaubt, lebtjetzt. Er nimmt seine Aufgaben im Leben nicht deshalb wahr, weil es ihm darauf ankommt, sich das ewige Leben zu sichern, sondern er setzt sich mutig für das Wohle seines Nächsten und der Schöpfung ein, um seiner Verantwortung gerecht zu werden und zu bewirken, was not tut.

In jeder Religion kennt man Personen, die diesen Glauben als eine Art zu leben praktiziert haben, und denen es nachzufolgen gilt. Der Jesus der Evangelien ist ein solcher Mensch. Sein Glaube war - nach dem Bild, das wir von ihm haben - nicht dogmatisch, sondern flexibel und situationsentsprechend, lebensnah und bedürfnisgerecht. Der Mensch, so soll er zum Beispiel gesagt haben, sei nicht für den Sabbat gemacht, sondern der Sabbat sei für den Menschen da (Markus 2,27). Und wenn der gesetzestreue Jude dem Tempel opferte, was eigentlich seine armen Eltern dringender gebraucht hätten, dann war Jesus dafür, einer solchen Regel nicht zu folgen (Markus 7,11). Er meinte, daß im Konfliktfalle die Gesetze der Menschlichkeit über den von Menschen geschaffenen religiösen Weisungen zu stehen hätten.

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"Ihr seid meine Freunde...", sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums (Johannes 15,14) zu denen, die das Göttliche, das er konsequent verkörpert hat, auch in ihrem Leben zu verwirklichen suchen. Er verlangt von seinen Freunden nicht, sich starren Regeln zu unterwerfen und an Lehrsätze zu glauben, sondern den Glauben zu leben, so wie er ihn vorgelebt hat. Ich denke, daß diese Art zu leben der Glaube ist, den Paulus im Sinne hat, wenn er an die Galater schreibt: "Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen" (Galater 6,2). "Gottesdienst", wie Jesus ihn gemeint haben könnte, ist nach meinem Verständnis nicht das, was an einem Tag der Woche kultisch zelebriert wird, sondern das, was auf der Straße von Jerusalem nach Jericho geschieht (Lukas 10, 29-37), das, was Menschen jeden Tag und überall aus Liebe ihren Nächsten Gutes tun.

So verstandener Glaube, der aus der Kraft des Göttlichen in uns gespeist wird, ist also überall zu finden - bei Menschen jeder religiösen Tradition, aber auch außerhalb jeglicher religiöser Gemeinschaft. Wo Menschen in diesem Sinne glauben, da geschieht das einzig Wesentliche: die Begegnung mit Gott im Mitmenschen. Dieser Glaube ist überall, wo wir jemanden bedingungslos annehmen, statt ihn abzuweisen und zu verurteilen; er ist da, wo einer dem andern unverdient Halt und Hilfe gewährt, ihm Mut macht und Zuspruch gibt, ihn tröstet und stärkt, ihm Zeit, Liebe und Heilung schenkt - wie der barmherzige Samariter, der alle Bedenken in den Wind schlägt und sich mit seiner ganzen Menschlichkeit seinem Nächsten zuwendet. Das zutiefst mitmenschliche Verhalten in dieser Gleichnisgeschichte (Lukas 10,29-37), das von Jesus als vorbildhaft gekennzeichnet wird, ist das, was dem Göttlichen in uns entspricht. Zu diesem Allerwesentlichsten aber bedarf es keiner fixierten Regeln und Weisungen, keiner heiligen Grundsätze und Lehren. Deshalb wissen sich Menschen innerhalb und außerhalb aller Religionen in diesem Glauben verbunden. Unter diesem Aspekt tritt die Frage nach der religiösen Gemeinschaft, der jemand angehört, und nach deren Selbstverständnis in den Hintergrund. Der Glaube, der eine Art zu leben ist, kennt keine institutionellen Ein- und Abgrenzungen. Die verschiedenen Religionen geben Gott unterschiedliche Namen - und sind doch sämtlich von demselben göttlichen Geist erfüllt, der alle Menschen eint.

Ich muß, so meine ich, nicht beschreiben können, an wen oder was ich glaube, denn allein mein Tun und Verhalten, meine Art zu leben ist mein Glaube. Er spricht für sich und ist das unsichtbare Erkennungs-Abzeichen, das alle Menschen tragen, die zu Jesu "Freunden" gezählt werden können. Mein Glaube bindet mich nicht an Worte und Sätze, an Bekenntnisse und Definitionen, er macht mich frei von alldem. "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Der Herr ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit." (2. Korinther 3,6.17)

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