Sonntag, 3. Mai 2009

Ein Name für meine innere Erfahrung

Lieber N.,

[...]
Du hast mich nach meinem Gottesbild gefragt, und ich suche schon eine ganze Weile nach Worten, die eine einigermaßen verständliche Antwort abgeben könnten.

Eigentlich habe ich ja gar kein Bild von Gott, denn ich denke, daß das Göttliche immer ganz anders sein wird als alle Vorstellungen, die wir uns ausdenken können. Deshalb kann ich auch Gottesbilder von anderen Menschen und die in der Bibel nicht einfach so für mich übernehmen. Ich habe eben meine ganz eigene Beziehung zu dem, was ich "Gott" nenne.

Ich könnte es mir leicht machen und einfach sagen: Gott ist ein Name, den ich meiner inneren Erfahrung gebe. Aber das würde Dir nicht viel nützen, denn Du kennst ja meine innere Erfahrung nicht. Also mache ich es mir nun ein bißchen schwerer und hole ein wenig aus.

Solange ich denken kann, habe ich eine starke Sehnsucht in mir getragen. Eine Sehnsucht, die sich im Laufe der Jahrzehnte zusammen mit mir in ihrer Form zwar kontinuierlich verändert hat, in ihrem Inhalt sich aber stets treu geblieben ist. Es ist eine Sehnsucht, von der ich mir sehr lange ganz sicher war, daß sie sich, solange ich lebe, nicht erfüllen wird. Und obgleich - oder gerade weil? - ich das wußte, konnte ich mich erst recht nicht von ihr trennen. Eigenartig, nicht?

Ich sehnte mich nach einer Sicherheit, die durch nichts erschüttert werden kann, durch kein unglückliches Ereignis und durch keinen unvorhergesehenen Zwischenfall. Ich sehnte mich nach der Gewißheit, daß mir nichts Vernichtendes geschehen und daß immer alles zu einem guten Ende kommen wird. Ich sehnte mich nach einer Geborgenheit, von der ich mich für immer behutsam und zärtlich umhüllt weiß. Ich sehnte mich danach, mit allen meinen zahlreichen menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten bedingungslos angenommen zu sein und endlos geliebt zu werden, ohne daß ich mich dieser Liebe würdig erweisen muß. Ich sehnte mich danach, zu wissen, wer ich bin, woher ich kam und wohin ich gehe, worin der tiefe Sinn meines Lebens - und des Lebens überhaupt – besteht und was meine ganz besondere Bestimmung in diesem Leben ist, die mich einmalig und einzigartig wertvoll sein läßt.

Eine solche Sehnsucht, das schien mir langezeit klar zu sein, konnten nur wirklichkeitsfremde Träumer hegen. Realisten, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen, würden dafür nur ein Kopfschütteln übrig haben oder ein mitleidiges Lächeln.

Aber dann habe ich irgendwann angefangen zu spüren, daß da - ganz tief in mir - etwas ist, das mir immer wieder ganz leise sagte: Deine Sehnsucht ist durchaus nicht lächerlich und auch nicht unerfüllbar! Sie wohnt in allen Menschen. Sie verraten es einander nur fast nie, weil sie sich ihrer schämen. Bei manchen ist sie freilich ganz verborgen und vergessen oder gar völlig verschüttet von Verbitterung und Resignation, aber sie stirbt nicht. Bis zum letzten Atemzug nicht. Jeder Augenblick höchsten Glücksgefühls läßt sekundenlang im Menschen das heftige Begehren aufblitzen, er möge ewig dauern; jede große Liebe erweckt in ihm das leidenschaftliche Verlangen, sie möge niemals vergehen.

Ich dachte an die Worte in Goethes „Faust“: Zum Augenblicke möcht' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!, und ich erkannte, wie recht die Stimme in meinem Innern hatte, und zugleich empfand ich einen Hauch von Vorgeschmack von der Ewigkeit des Augenblicks.

Von da an begann ich, aufmerksamer zu werden für das Verborgene. Und ich konnte mitten in der allgegenwärtigen Unsicherheit, die unser vergängliches Glück, unser Haben und Sein fortwährend bedroht, immer deutlicher eine ganz neue Sicherheit wahrnehmen. Eine tragende, beruhigende und tröstende Sicherheit in meinem Innern, die nicht von äußeren Umständen abhängig ist und die auch in leidvollen Zeiten dableibt und sogar dann, wenn der Boden unter meinen Füßen wankt. Mitten in der Unsicherheit konnte ich immer deutlicher die Geborgenheit spüren, mit der ich umhüllt bin und die nicht zuläßt, daß ich verloren gehe. Mitten in der Endlichkeit konnte ich die Unendlichkeit fühlen, mitten in der Enge die Weite, mitten in der Angst das Gerettetsein, mitten in der Verletzung die Unversehrtheit. Und immer klarer wurde mir das absolute Ja bewußt, das zu mir gesagt ist und das mich so annimmt, wie ich bin, und mich bedingungslos liebt. Und ich hatte das Gefühl, daß diese Liebe zu mir immer dagewesen war. Von meinem Werden im Mutterleib an. Sogar dann, wenn ich mich selbst gehaßt und verurteilt hatte, hat diese Liebe zu mir gestanden und mich verteidigt und freigesprochen, ich hatte es nur nie wahrgenommen. Und sie war es auch gewesen, die mich mit starken Armen durch alles Schwere hindurchgetragen und bewahrt hat, und sie würde mich auch in Zukunft nicht fallenlassen. Auch im Tode nicht und nicht darüber hinaus.

Ich habe gelernt, auf diese leise innere Stimme, die zu oft von den vielen lauten, die auch in mir sind, übertönt wird, immer aufmerksamer zu achten. Wenn ich ganz still werde, kann ich sie manchmal hören. Und was diese Stimme sagt, empfinde ich stets als stimmig. Ich kann mich getrost darauf verlassen und mein Handeln danach ausrichten. Dieses Gefühl hat mich bisher nie getrogen.

Die ganz besondere Stimme in meinem Innern hat mich gelehrt, zuversichtlich ja zu sagen zu dem, was ich hinnehmen muß; mutig zu sein, wenn es darauf ankommt, gegen Widerstände das Gute zu unterstützen; hoffnungsvoll zu sein in schwierigen Lebenssituationen. Sie hat mich das Staunen gelehrt über die unbegreiflichen Wunder der Natur; sie hat mich gelehrt, achtsamer umzugehen mit Menschen und mit mir selber, und sie hat mich gelehrt, dankbar zu sein für die vielen Kostbarkeiten, an denen ich teilhaben darf und die ja nicht selbstverständlich sind.

Natürlich mache ich auch weiterhin jeden Tag Fehler und versage immer wieder aufs neue. Aber das Großartige ist, daß ich Vergebung spüre, wenn ich schuldig geworden bin und wenn mir das von Herzen leid tut, und daß jeder Tag mir als eine neue Chance geschenkt ist. Solange ich lebe.

So hat meine Sehnsucht also doch ihre Erfüllung erfahren und erfährt sie täglich neu. Und dieser meiner inneren Erfahrung gebe ich den Namen "Gott".
[...]

Einen herzlichen Gruß sendet Dir
E.

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