Montag, 4. Mai 2009

Was Spiritualität für mich ist

Ich maße mir nicht an, erklären zu wollen, was das Wesen der Spiritualität an sich sei, ich möchte lediglich zu beschreiben versuchen, was Spiritualität für mich ist. Da mir von jeher ein starker Hang zur Nachdenklichkeit eigen war, haben mich auch schon sehr früh die Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel des Menschenlebens beschäftigt, und sie tun es bis heute. Meine Antworten darauf waren im Laufe der Jahrzehnte – gemeinsam mit mir selbst - einem mehrfachen Wandel unterworfen, zu keinem Zeitpunkt sind sie endgültig gewesen, und sie werden es auch kaum jemals sein. Dies gilt also ebenso für meine folgenden Gedanken.

Für mich bedeutet Spiritualität,
- auf "Das von Gott" in mir zu lauschen,
- eigene innere Erfahrungen mit dem Göttlichen zu machen,
- in der Stille das Wesentliche zu suchen.

An einem freilich habe ich niemals länger und ernsthaft gezweifelt: Ebenso wie das Wissen um unsere Endlichkeit, das uns vom Tier wesenhaft unterscheidet, muß auch das tief in uns verwurzelte Ahnen, daß der Mensch mehr sei als ein rein biologisches Wesen, der Ausdruck einer Wirklichkeit sein. Seine besondere Eigenart, so war und bin ich mir sicher, gründet sich auf eine Herkunft, die neben ihrer körperlichen Existenz noch eine andere, eine seelenhafte, geisterfüllte Dimension hat, und auf eine von dieser Herkunft abgeleitete Bestimmung, die das Leben des Individuums einzigartig und unersetzlich wertvoll macht. Dabei bin ich mir der begrifflichen Vieldeutigkeit und damit auch Mißverständlichkeit von "Seele" und "Geist" durchaus bewußt, aber mir stehen keine anderen üblichen Bezeichnungen für das zur Verfügung, was ich meine. Was ich ausdrücken möchte, läßt sich wohl auch viel besser mit Bildern als mit Wörtern sagen. Besonders eindrucksvoll in ihrer Bildhaftigkeit finde ich die Vorstellung von der "höheren" Herkunft und Bestimmung des Menschen in dieser bekannten alten hebräischen Überlieferung erzählt, wo es heißt:

"Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen"
(1. Mose/Genesis 1,26 f. und 2,7 - Lu84).

Das in der Luther-Übersetzung der Bibel verwendete Wort "Odem" steht für hebräisch "ruach", ("Windhauch", "Geist") und entspricht etwa dem lateinischen Ausdruck "spiritus". Davon schließlich leiten sich "spirituell" und "Spiritualität" ab. Der Mensch wird also erst durch die Einhauchung des göttlichen Geistes zum Menschen, und diese Herkunft aus Gottes Geist ist zugleich auch die Bestimmung des Menschen zur Gottesebenbildlichkeit. Die freilich verwirklicht sich in jedem Individuum auf eine ganz einmalige und unvergleichliche Weise.

"Spiritualität" bezeichnet daher für mich zunächst die Natur des Menschen, ein "geistgezeugtes", also spirituelles Wesen zu sein, dann aber auch dessen Ahnung davon und schließlich sein Bemühen, die Verbindung zu dem Geist, aus dem er kommt und der ihn bestimmt, wahrzunehmen und bewußt herzustellen.

Ich nun habe die Erfahrung gemacht, daß dieser göttliche Geist, in welchem ich die Quelle meines Seins erkenne, nicht nur außerhalb von mir existiert, sondern auch in mir selbst. Das Meer, so beschreibt es sehr treffend Willigis Jäger, ist zugleich die Welle, und die Welle ist das Meer. Auch die von George Fox verwendete Formulierung "That of God in Every Human Being" ("Das von Gott in jedem Menschen") ist eine gute Möglichkeit, meine Vorstellung auszudrücken, daß ich in Gott bin, wie Gott in mir ist und in einem jeden von uns. Ich denke, wir können überhaupt erst dann einander als Brüder und Schwestern erkennen, wenn wir uns durch den göttlichen Geist in uns allen miteinander verbunden wissen, denn "Das von Gott in jedem Menschen", das "innere Licht", wie Fox es auch nennt, ist uns allen innewohnend, auch wenn es durch unsere Lebensführung und durch unser Tun manchmal für andere nahezu unsichtbar werden kann. So bedeutet Spiritualität für mich unter anderem, mit dem Geist in mir selbst und überall außerhalb von mir immer wieder bewußt in Verbindung zu kommen und ihn wahrzunehmen in den Menschen, denen ich begegne, ganz gleich, in welchem Verhältnis sie zu mir stehen.

Spiritualität ist nach meinem Verständnis eng verbunden mit einem immerwährenden Suchen. Ich bezeichne mich gern als einen "Suchenden", als einen Menschen, der sich nie am Ziele glaubt, sondern lebenslang auf dem Wege seiend; ich sehe mich weniger als Wissenden denn als Fragenden. Das Göttliche, so glaube ich, offenbart sich nicht in den Kategorien unseres menschlichen Denkens und also nicht, wie unser Verstand es erfassen könnte. Wäre es anders, gäbe es keine Glaubenszweifel - aber auch keinen Glauben. Wer meint die Wahrheit gefunden zu haben, läßt mich vermuten, daß er einer großen Selbsttäuschung unterliegt.

Ich wage nicht zu behaupten, ich könnte, wenn ich die Vokabel "Gott" verwende, genaue Vorstellungen damit verbinden. Aber ich empfinde das nicht als einen Mangel, denn ich denke, daß das, was wir "Gott" nennen, ohnehin immer ganz anders sein wird als alle unsere Vorstellungen. Von "Gott" und "dem Göttlichen" spreche ich also im Grunde nur, weil ich kein anderes Wort für das habe, das ich ohnehin nicht beschreiben kann. Was ich "Gott" nenne, ist meine ganz persönliche innere Erfahrung, die sich im Laufe des Lebens entwickelt und verändert hat. Für mich ist Gott nicht ein personales Wesen, sondern ein unpersönliches Bewußtsein, ein allumfassendes Sein, das mich umhüllt und trägt, das mir ein starkes Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit gibt - eine tragende, beruhigende und tröstende Sicherheit in meinem Innern, die von äußeren Umständen unabhängig ist. Aber bei dieser meiner Erfahrung mit dem Göttlichen empfinde ich auch Achtung und Ehrfurcht vor dem Glauben von Menschen, die ein ganz anderes Gottesbild haben. Ich glaube nicht an die buchstäbliche Wahrheit von Worten aus Heiligen Büchern und auch nicht an menschengemachte Lehrmeinungen, aber ich glaube mit tiefem und demütigem Vertrauen und Gehorsam an den einen Gott, den ewigen Ursprung allen Seins, der in allen Religionen derselbe ist, ungeachtet der Tausende sich widersprechenden religiösen Theorien.

Gott ist für mich nicht zwischen den beiden Deckeln eines Buches konserviert. Ich finde, man sollte nicht meinen, er lasse sich von uns auf ein paar hunderttausend Wörter in Heiligen Schriften reduzieren und in Katechismen einsperren. Dort finde ich ihn ja auch nicht selbst, sondern nur Bilder und Vorstellungen, die Menschen sich von ihm gemacht haben. Gewiß, er kann diese Texte benutzen, um zu mir zu sprechen, und das erlebe ich auch. Aber ich finde seine Botschaft an mich nicht weniger in anderen Büchern, und nicht nur in den Büchern der Religionen, ich spüre seine Gegenwart an allen Orten - in der Stille, in der Natur, in der Kunst, in anderen Menschen, in mir selbst. Da überall bin ich ihm oft sehr viel näher als bei der Bibellektüre. So gewinne ich meine ganz direkten persönlichen Gotteserfahrungen.

Wie wir von den Mystikern wissen, kann man eigene Erfahrungen mit Gott freilich nur machen, wenn man sehr aufmerksam auf die innere Stimme hört. Was diese göttliche Stimme tief drinnen in mir sagt, empfinde ich stets als stimmig, und deshalb wage ich es, mich darauf einzulassen. Aber ich muß für sie offen sein und aufnahmebereit, denn sie spricht sehr leise und wird in unserer lauten Welt leicht übertönt. Diese Offenheit und Achtsamkeit nenne ich eine spirituelle Haltung, denn sie hilft mir, zum Wesentlichen vorzudringen - beispielsweise von den unangenehmen Seiten meines Nächsten zum Grunde seines Menschseins, von den ärgerlichen Erscheinungen zu den Dingen, für die ich dankbar sein kann, von der Oberflächliche des Alltags in die Tiefe, aus der meine Lebenskraft kommt.

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