Sonntag, 10. Mai 2009

Was ist "Wahrheit" in der Religion?

Religiöser Glaube ist Vertrauen und Zuversicht auf die letztendliche Geborgenheit in einer überweltlichen Macht; er ist nicht das Für-wahr-Halten von Gottesbildern und Lehren, Mythen und Legenden. Religiöser Glaube äußert sich seinem Wesen nach in inneren Erfahrungen und archetypischen Bildern, nicht aber in der historischen und faktischen Wirklichkeit des Inhalts Heiliger Schriften.

Auf meinem Weg des Suchens bin ich allmählich zu der Einsicht gelangt, daß die Geschichte von der leiblichen Auferstehung Jesu nicht wahr sein muß, um zutiefst wahr sein zu können. Dieses Wortspiel will sagen: Eine Glaubenswahrheit muß nicht im tatsächlichen Geschehen eines beschriebenen Ereignisses gesucht werden, sondern in seiner Bedeutung für den Glaubenden. Auch das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot ist nicht wahr als tatsächliches Geschehen – und ist doch wahr in seiner tieferen Bedeutungsebene. Der namhafte Theologe, Psychotherapeut und Publizist EUGEN DREWERMANN (*1940) hat das in seiner tiefenpsychologischen Deutung dieses Grimmschen Märchens sehr anschaulich und eindrucksvoll gezeigt (DREWERMANN, EUGEN: Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, München 1992, S. 11ff.).

Der deutsche evangelischen Theologe GUSTAV MENSCHING (1901-1978) schreibt: „Wahrheit ist in der Religionswelt ... die göttliche Wirklichkeit selbst, der Menschen erlebnishaft begegnet sind. Von dieser Wirklichkeit und der Begegnung mit ihr zeugen religiöse Begriffsbildungen mythischer Art, deren ‚Wahrheit’ in dem vorhandenen Bezug zu jener Wirklichkeit liegt, nicht aber in ihrer rationalen Richtigkeit.“ (MENSCHING, GUSTAV: Toleranz und Wahrheit in der Religion, Heidelberg 1955, S. 155)

Das heißt mit anderen Worten: Die Wahrheit von Glaubensaussagen ist nicht darin zu suchen, daß die Aussage mit dem bezeichneten Sachverhalt in Raum und Zeit tatsächlich übereinstimmt, sondern sie ist zu finden in der erlebten (und weiterhin noch erlebbaren) Wirklichkeit der Erfahrung des Menschen mit dem Göttlichen. Christlicher Glaube zum Beispiel besteht dann nicht darin, die Wundererzählungen, Mythen und Legenden in den Evangelien für historische Tatsachen zu halten, sondern in der inneren Erfahrung des Gläubigen, daß aus ihnen etwas zu ihm spricht, das ihn in der Tiefe berührt und so zur erfahrenen und mithin geglaubten Gewißheit für ihn wird.

Wir müssen also unterscheiden zwischen einer
Wahrheit der objektiven Tatsache und einer Wahrheit der subjektiven Erfahrungsgewißheit.

Lebt beispielsweise ein gläubiger Christ aus der persönlichen Begegnung mit dem auferstandenen Christus, in welchem Gott Mensch geworden ist, dann ist dessen Göttlichkeit für diesen Christen ebenso erlebte Wirklichkeit und folglich persönliche Gewißheit, wie es für einen gläubigen Muslim eine erlebte Wirklichkeit und damit persönliche Gewißheit ist, daß Jesus nicht Gott sein kann. Diese beiden subjektiv erfahrbaren Wirklichkeiten schließen aber einander nicht aus, wie objektive (und also wissenschaftlich nachprüfbare) Tatsachen es täten, wenn sie einander widersprächen, sondern sie können sehr wohl gleichwertig nebeneinanderstehen. Bei beiden handelt es sich um Glaubensgewißheiten, von denen Menschen in Wahrheit zutiefst ergriffen sind. Sie sind daher im religiösen Sinne beide wahr, und „zwei Wahrheiten können einander nie widersprechen“, wie GALILEO GALILEI (1564-1642) treffend feststellte. Ein Wahrheitsurteil dagegen im wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Sinne über die Richtigkeit oder Falschheit des einen oder anderen religiösen Bekenntnisses steht niemandem zu und wäre – aus dem genannten Grunde – auch gar nicht möglich.

Daraus folgt: Der erste und entscheidende Schritt auf dem Wege zur Interreligiosität muß die Akzeptanz des Selbstverständnisses des anderen sein. Die Feststellung: „So steht es geschrieben, also ist es wahr!“ ist für den Gläubigen eine Glaubensaussage. Was da geschrieben steht, ist für ihn als göttliches Wort absolut verbindlich. Das muß der Dialogpartner respektieren. Hier ist die Achtung vor dem Glauben des anderen geboten, und dieser Glaube ist weder „richtig“ noch „falsch“, sondern die Wahrheit des Glaubenden! Diese Grundeinstellung ermöglicht überhaupt erst ein fruchtbares Gespräch unter Gleichen.

„Was ist denn Wahrheit?“ fragt JÖRG ZINK (*1922), einer der bekanntesten evangelischen Theologen der Gegenwart. „Ist Wahrheit die Richtigkeit von Glaubenssätzen? Ist Wahrheit nicht die Macht des Gottesgeistes, der [...] unser Leben durchformt und uns den Weg weist, den wir in Freiheit gehen können?“ (ZINK, JÖRG: Entdecken, was uns verbindet. Spirituelle Texte aus allen Religionen der Erde, Verlag Kreuz GmbH, Stuttgart 2008, S. 12)

Die jeweiligen Wahrheiten der Glaubenden können, wie wir wissen, sehr unterschiedlich und sogar gegensätzlich sein. Aber das hat für mich eine einfache Erklärung: Ich denke, daß die „Götter“ in den verschiedenen Religionen der Welt und ihren Heiligen Schriften unterschiedliche Versuche der Menschen sind, das Göttliche, das sie ahnen und erfahren, zu beschreiben. In ihren Gottesbildern spiegeln sich stets ihre eigenen historischen und kulturellen Hintergründe, ihre ethnischen Besonderheiten sowie ihre Erlebnishorizonte und Deutungsmuster wider. In allen diesen Gottesvorstellungen sehe ich Ausdrucksformen eines ernstzunehmenden und ehrwürdigen Vortastens zu dem Unerfaßbaren und Unbeschreibbaren. Wer dürfte sich anmaßen, sie zu bewerten? So ziemt sich für uns ein gesundes Maß an Demut und Ehrfurcht vor dem religiösen Erfahrungswissen der anderen.

Daraus schließe ich nun, daß formale Gegensätze in den Lehren der verschiedenen Religionen ohne Schwierigkeiten hingenommen werden können, denn sie lassen den Glauben in seinem Kern unberührt. Daher kommt es meines Erachtens in erster Linie darauf an, daß wir uns wieder auf den Glauben im Ursinne des Wortes zurückbesinnen, also auf

  • das Einssein mit dem Urgrund allen Seins und auf das unerschüt­terliche Vertrauen, das dem Menschen aus der Quelle des Lebens die Kraft gibt zum „Feststehen in dem, was man erhofft, (zum) Überzeugt­sein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebräer 11,1 - EÜ) und zum zuversichtlichen Abwarten des Lebensschicksals, sowie
  • das Wissen um das Gehaltensein in jeder Lebenslage und über den Tod hinaus.
Gegenüber diesem in der Erfahrung lebendigen Wesenskern des Glau­bens scheint mir das jeweilige theoretische Bezugssystem von unter­geordneter Bedeutung zu sein. Könnten wir die Religionen ihrer sämt­lichen Lehrsätze entkleiden, dann würden wir gewiß mit Staunen ent­decken, wie gleich sie sich im Grunde alle sind! Wenn wir die Heiligen Schriften der verschiedenen Religionen ohne Vorurteile lesen, dann stel­len wir fest, daß sie nicht nur zeitbezogene – und damit veraltete – Aussagen enthalten, sondern auch zeitlose Grundwahrheiten. Warum also sollten diese Schriften – trotz aller Unterschiedlichkeit und Wider­sprüchlichkeit – einander nicht auch gegenseitig bestätigen, ergänzen und befruchten?

Wie relativ der Wert religiöser Glaubenssysteme ist, sehe ich nicht zuletzt darin, daß jegliche theologische Lehre – wie überhaupt alles menschliche Reden von Gott – nur Versuch und Andeutung sein kann, Tasten und Sehnen, scheues Wagnis, Bilder für etwas zu finden, das sich unserem Begreifen und damit unseren Begriffen entzieht. Was wir über das Unaussprechbare wirklich sagen können, ist einzig der Satz: „Gott ist!“, alles weitere ist – das Wort „Gott“ selbst mit eingeschlossen – nur Gleichnis. Gleichnisse hat daher auch Jesus benutzt, um den Menschen Gott zu verkünden. „Wenn du es begriffen hast, dann ist es nicht Gott“, sagt der Kirchenvater AUGUSTINUS VON HIPPO (354-430).

Hier zeigt sich überhaupt das Grundproblem eines jeglichen Redens von Gott: Einerseits ist da die Erfahrungsweisheit des Gebotes: „Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgendein Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist“ (2. Mose/Exodus 20,4 - Zü), und des Gotteswortes aus dem Munde des Propheten Jesaja: „Mit wem wollt ihr Gott vergleichen? Gibt es irgend­etwas, das einen Vergleich mit ihm aushält?“ (Jesaja 40,18 - GN) (Ich denke, Buddhisten beispielsweise verstehen viel besser als Christen, daß die erste und letzte Wirklichkeit, die alles durchdringt, das große Geheimnis unseres Le bens, nicht mit Begriffen erfaßt werden kann, sondern daß wir es allenfalls im warten den und demütigen Schweigen zu erspüren vermögen.)

Andererseits aber können wir von unserem Erleben des Göttlichen nur dann reden, wenn es in Bild und Symbol geschieht. Ohne Bilder kommt religiöse Sprache nicht aus. Da dies nun einmal so ist, müssen wir uns auch stets dessen bewußt sein, daß es eben nur Bilder sind, die in den Religionen dazu dienen, Glaubenswahrheiten auszudrücken. Also dürfen wir nie außer acht lassen, daß alles, was Menschen in den verschiedenen Religionen jemals von Gott gesagt und niedergeschrieben haben, nur unzulängliche Versuche sind, Unsagbares zu sagen, Unbeschreibbares aufzuschreiben, religiöse Erfahrungen in unsere begrenzte menschliche Vorstellungswelt zu übertragen und in unsere untauglichen Worte zu fassen.

Obwohl Gott beispielsweise als Vater („Haben wir nicht alle denselben Vater? Hat nicht ein und derselbe Gott uns geschaffen?“ – Maleachi 2,10 - ), als Mutter („Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch“ – Jesaja 66,13 - EÜ), als Töpfer („Ist denn der Ton so viel wie der Töpfer?“ – Jesaja 29,16 - EÜ), als Hirte („Der HERR ist mein Hirte…“ – Psalm 23,1 - Lu) usw. bezeichnet wird, ist die unerfaßliche Gottheit doch mit keinem dieser Anthropomorphismen (d.h. vermenschlichenden Begriffe) iden­tisch. Alle Bilder, mit denen wir von Gott reden, entspringen zwangsläufig unserer eigenen Denk- und Erfahrungswelt. Die verschiedenen in den Heiligen Schriften der Religionen be­schriebenen Wesensmerkmale Gottes können uns also nicht sagen, wie Gott an sich ist; sie sagen uns lediglich, was er für uns ist – für die Menschen, die ihn so erfuhren und beschrieben, und für diejenigen, die diese Beschreibungen zum Grunde ihres Glaubens gemacht haben.

Wenn das aber so ist, dann allerdings dürfen wir unterschiedliche Gottesvorstellungen und Glaubenslehren in den verschiedenen Religionen nicht über die gemeinsamen spirituellen Erfahrungen stellen.

Jede Religion besteht nach meiner Erkenntnis im Grunde aus drei Ebenen. Diese sind:

  1. die Ebene der Spiritualität (also der inneren Erfahrung aus der Begegnung mit dem Numinosen sowie der jeweiligen Heiligen Schrif ten und der sakralen, rituellen Handlungen);
  2. die Ebene des Ethos (also des religiös begründeten sittlichen Bewußtseins, aus dem sich normierende moralische Regeln ergeben); und
  3. die Ebene der Dogmatik (also der als allgemeinverbindlich erklärten Interpretation des Spirituellen, die Lehren und Doktrinen).

Die ersten beiden Ebenen haben von Natur aus einen religions­übergreifenden Charakter und wirken daher verbindend. Der Wesenskern aller Religionen ist nach den Ergebnissen der religionswissenschaftlichen Forschung stets derselbe: Es geht immer um diese vier Dinge:

  1. die Anerkennung einer transzendenten Existenz als Anfang und Ende allen Seins,
  2. die Vorstellung von einer Weiterexistenz nach dem Tode,
  3. eine (wie auch immer geartete) Heilserwartung und
  4. ein Katalog von Verhaltensregeln.

Alles andere ist Dogmatik und damit religionsspezifischer Natur, wobei das eine dogmatische System keinen größeren Anspruch auf Wahrheit hat als die anderen.

Die trennende Wirkung geht einzig von der dritten Ebene aus, wenn sie in ihrer Bedeutung über die erste und die zweite gesetzt wird. Nicht die religiöse Spiritualität und das religiöse Ethos führen zu unverein­baren Gegensätzen, sondern die Dogmatik ist das Problem! Ordnet man aber die Ebene der Dogmatik den Ebenen der Spiritualität und des Ethos unter, dann kommt es nach meiner Überzeugung nicht wesentlich darauf an, welcher Religion man angehört und welches Glaubensbekenntnis man spricht, sondern allein darauf, daß man in Einklang mit dem Göttlichen gelangt und daß man nach humanistischen Grundsätzen lebt. Aber wenngleich das meine Überzeugung ist, so beansprucht sie doch keineswegs, auch für jeden anderen Menschen richtig zu sein.

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