Dienstag, 12. Mai 2009

Gegensätzliche Glaubenswahrheiten schließen einander nicht aus

Für den einen ist die Bibel das Wort Gottes, für den anderen ist es eine andere Heilige Schrift wie zum Beispiel der Koran, und ein dritter glaubt, daß man überall dem Göttlichen begegnen kann. Ich denke, daß alle drei auf ihren verschiedenen Wegen zu göttlichen Erfahrungen gelangen, denn ich bin davon überzeugt, daß das Göttliche nicht auf die Buchstaben irgendeines Buches reduziert und darin festgehalten werden kann. Gött­licher Geist „weht, wo er will“ (Johannes 3,8 - Zü), warum also sollte er so, wie er in Jesu Handeln wirksam war, nicht auch in anderen Religionen gegenwärtig sein können?

„Prüft aber alles, und das Gute behaltet!“ (1. Thessalonicher 5,21 - Lu) Das gilt, wie ich finde, auch für den interreligiösen Dialog. Das „Gute“ ist jener göttliche Geist, der unter anderem auch der Verständigung und dem Frieden unter den Menschen dient. Dieses „Gute“ aber ist in allen Religionen enthalten, auch wenn es in ihnen durch immer wieder andere Mythen und Legenden zum Ausdruck kommt.

Einer hält die „unbefleckte“ Empfängnis Jesu im biologischen Sinne für wahr, während ein anderer in der Jungfrauengeburt der Maria ein uraltes mythisches Motiv zur Hervorhebung der einzigartigen Besonder­heit der Person Jesu ansieht. Ich glaube, daß bei beiden Betrachtungs­weisen das Göttliche in seinem (uns verstandesmäßig unzugänglichen) Wesen dasselbe bleibt.


Der eine gründet seinen Glauben an den Christus Jesus darauf, daß am Kreuz Gott selbst für ihn gestorben sei; für den anderen sind Kreuzi­gung und Auferstehung nur Bilder für eine tiefere Wahrheit. Ich glaube, daß sich dennoch beide von der Liebe Gottes gleichermaßen umfangen und getragen wissen dürfen.

Für den einen ist es eine Glaubenswahrheit, daß Jesus der Sohn Gottes sei, während es für den anderen eine ebensolche Glaubens­wahrheit ist, daß er es nicht sein könne, weil Gott keinen Sohn habe. Ich glaube, daß beide ihrer jeweiligen Wahrheit getrost treu bleiben können, weil die Tatsache der Gegensätzlichkeit dieser beiden verschiedenen Vorstellungen nichts zu ändern vermag an der Wahrheit Gottes, die wir alle nicht kennen.

Wenn zum Beispiel immer wieder behauptet wird, daß die Muslime an einen anderen Gott glaubten als die Christen, weil Allah keinen Sohn habe, so geht dieses Argument ins Leere, denn die unterschiedliche Sicht auf die Person Jesu ergibt sich aus ver­schiedenen menschlichen Glaubensvorstellungen. Was sich gegenseitig ausschließt, das sind die Lehrgebäude und Dogmen der Menschen. Aber davon ist nach meiner Überzeugung das Göttliche völlig unabhängig. Werden also religiöse Lehrsätze nicht in einen unzulässigen Widerspruch gebracht, sondern als verschiedene gleichwertige Möglichkeiten angesehen, bildhaft von Gott zu sprechen, und als wahr für den, der sich zum jeweiligen Glauben bekennt, dann ist Gott nur noch Gott, in allen Religionen derselbe.

Deshalb können nach meiner Überzeugung Christen, Juden und Muslime sich im Glauben an denselben Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vereint wissen, solange sie sich nicht von widersprüchlichen Dogmen irritieren lassen. Das bestätigt im Kern sogar Papst Benedikt XVI. (*1927), der im Jahre 2006 in einer Rede sagte: „Judentum, Christentum und Islam glauben an den einen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde. Daraus folgt, daß alle drei monotheistischen Religionen zur Zusammenarbeit für das Gemeinwohl der Menschheit aufgerufen sind, indem sie der Sache der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt dienen“. (http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/march/documents/hf_ben-xvi_spe_20060316_jewish-committee_ge.html)

Im Widerspruch dazu steht freilich, daß der Papst in letzter Zeit den katholischen Christen wiederholt untersagt hat, mit Angehörigen anderer Religionen, z.B. Muslimen oder Juden, gemeinsam zu beten, da „jeder nur zu seinem eigenen Gott beten“ könne. Das ist übrigens auch die Auffassung der protestantischen Kirchen.

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) ging sogar so weit zu sagen, "beim Glauben ... komme alles darauf an, daß man glaube; was man glaube, sei völlig gleichgültig. Der Glaube sei ein großes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft, und diese Sicherheit ent­springe aus dem Zutrauen auf ein übergroßes, übermächtiges und un­erforschliches Wesen" (Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke, Berlin/Leipzig/Wie/Stuttgart 1924)

In diesen Zusammenhang paßt auch ein Ausspruch des anderen großen Weimaraners Friedrich Schiller (1759-1805):

Welche Religion ich bekenne?
Keine von allen, die du mir nennst!
Und warum keine?
Aus Religion
.

(Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in fünf Bänden, München/Wien 1972, Band 1, Mein Glaube, S. 307)

„Alle Religionen sind im Grunde menschheitlich“, sagt Eugen Drewer­mann. „Wir müssen sie nur aus ihren kulturellen Sondervoraussetzungen lösen, damit dieser ihr Kern wirklich frei wird.“ (Drewermann, Eugen: Wozu Religion?, Freiburg/Basel/Wien 2001, S. 186)

Wenn wir das, was die verschiedenen Religionen an Lehren unter­scheidet, einmal beiseite ließen und die ganze Aufmerksamkeit einzig auf das Wesentliche richteten, dann würde gewiß jede von ihnen sich als die „richtige“ und „wahre“ erweisen, falls die sich zu ihr bekennenden Gläubigen sich ehrlichen Herzens und frischen Mutes darum bemühten, das durch ihr Verhalten augenfällig zu beweisen!

Die Idee von solch einem „Wettbewerb“ der Religionen hat Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) in seinem „Nathan dem Weisen“[20] mit der „Ring-Parabel“ sehr eindrucksvoll veranschaulicht. Ihr Grundgedanke ist: Alle Religionen gehen auf Gottes Willen zurück und können also verschie­dene Wege zu Gott sein. Gott ist wie ein Vater, der seine drei Söhne gleich liebte, aber nur einen Ring zu vererben hatte, der über die „geheime Kraft“ verfügte, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“. Also ließ der Vater zwei zum Verwechseln ähnliche Kopien anfertigen. Als er starb, konnte keiner der Söhne wissen, ob er oder seine Brüder im Besitz des wahren Rings sind. Die drei Söhne wollten daher vor Gericht herausbekommen, welcher Ring der wahre sei. Doch „der rechte Ring ist nicht erweislich“. Es zeigt sich sogar als nicht völlig ausgeschlossen, daß der wahre Ring dem Vater verlorenging und er deshalb drei Kopien anfertigen ließ. Der Richter jedenfalls rät den drei Söhnen:

Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht! — So sagte der
Bescheidne Richter.

Bei diesem Richterspruch hat Lessing sich vermutlich vom Koran inspirieren lassen, wo es in Sure 5:49 heißt: „Und hätte Allah gewollt, Er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch Er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er euch gegeben. Wetteifert darum miteinander in guten Werken.“ (Koran. Der Heilige Qur-ân, Verlag Der Islam, Leipzig 2001)

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich will die Unterschiedlichkeit von Glaubensinhalt und Glaubenspraxis in den einzelnen Religionen bis hin zur Gegensätzlichkeit keineswegs einebnen oder gar leugnen. Aber ich messe den verschiedenen göttlichen Erfahrungen in allen Religionen den gleichen hohen Wert zu. Aus diesem Grunde erscheinen mir Kontro­versen über Glaubensfragen abwegig und bedauerlich. Deshalb finde ich es umso sympathischer, wenn zum Beispiel der Koran sagt, daß man theologische Haarspaltereien und Streitgespräche um des Gemeinsamen willen tunlichst vermeiden sollte: „Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn in der besten Art... und sagt: Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und was zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist Einer. Ihm sind wir ergeben.“ ([17], Sure 29,46 f.) Das Wort „streiten“ hat zu unrecht meist einen negativen Beiklang, denn es kann auch etwas sehr Förderliches sein, miteinander zu streiten. Streiten „in der besten Art“ heißt für mich: Beim aufmerksamen Hören auf den Dialogpartner viel über seinen Glauben – und auch über den eigenen! – zu lernen, sich zu öffnen zum Verstehen fremder Überzeugungen und die eigenen zu überprüfen. Wenn allerdings die Streitenden nicht bereit sind, die Glaubenserfahrungen des jeweils anderen respektvoll anzunehmen und als wirkliche Erfahrungen gelten zu lassen, wird Streit unfruchtbar und kann den Dialog empfindlich stören oder gar scheitern lassen.

Wie verschieden die persönlichen Glaubenserfahrungen von Men­schen sein können, zeigt uns sehr eindrucksvoll die überwältigende Fülle an unterschiedlichen religiösen Vorstellungen in den einzelnen Religio­nen, ja oft sogar selbst innerhalb ein und derselben Religion. Diese Viel­falt an Bildern und Glaubensinhalten macht es daher auch nahezu unmöglich, Begriffe und Bezeichnungen zu finden, in denen sich die all­umfassende göttliche Wirklichkeit festmachen läßt. Allein das zentrale Wort „Gott“, mit dem wir den notdürftigen, aber unverzichtbaren Versuch machen, das Unnennbare zu benennen, zeigt das recht anschaulich:

Auf Margarethens besorgte Frage

„Glaubst du an Gott?“

antwortet bekanntlich Goethes Faust ihr mit diesen vielsagenden Worten (Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke, Berlin/Leipzig/Wie/Stuttgart 1924, Band 8, S. 96f.):

„Mein Liebchen, wer darf sagen:
Ich glaub' an Gott?
Magst Priester oder Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.
Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub' ihn?
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: ich glaub' ihn nicht?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht hier unten fest?
Und steigen freundlich blickend,
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau' ich nicht Aug' in Auge dir,
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir,
Und webt in ewigem Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll' davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn' es dann, wie du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.“

Und auf Margarethens Einwand:

„Das ist alles recht schön und gut;
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,
Nur mit ein bißchen andern Worten“

erwidert Faust:

„Es sagen's allerorten
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,
Jedes in seiner Sprache;
Warum nicht ich in der meinen?“

„Alle Herzen auf der ganzen Welt sagen’s in ihrer Sprache!“ Das heißt doch auch: mit ihren jeweiligen Bildern und Legenden, mit ihren ver­schiedenen Mythen und Glaubensvorstellungen und mit ihren ganz persönlichen religiösen Erfahrungen. Dennoch haben sie alle einen Teil der göttlichen Wahrheit erfaßt, die niemand ganz erfassen kann, kein Mensch und keine Religion.

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