Samstag, 25. Juli 2009

Toleranz bei den Religionsstiftern

Die weitverbreitete Meinung, daß Intoleranz zum Wesen der Religion gehöre, halte ich für falsch. Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein: Im Ursprung ist Religion tolerant. Intoleranz erwächst, wie in einem früheren Eintrag schon erwähnt, stets erst durch ihre Verflechtung mit politischer Macht. Am Christentum sieht man beispielhaft: Erst als es zur Staatsreligion wurde, begann die Intoleranz gegenüber anderem Glauben. Beim Islam erkennt man die Verquickung von Religion und Politik besonders deutlich. Aber oft wird übersehen, daß dort, wo Religion und Politik nicht vermischt sind, religiöse Toleranz vorhanden ist. So lebten beispielsweise in Spanien fast 800 Jahre lang Christen, Juden und Muslime friedlich miteinander. Bevor die Europäer in Asien Fuß faßten, lebten Hindus und Buddhisten in Frieden zusammen. Der indische König und hinduistische Religionsführer ASHOKA (274-232 v.u.Z.), auch PIYADASSI genannt, erließ sogenannte Toleranz-Edikte, die viel weiter gingen als das, was heute möglich zu sein scheint. In einem heißt es u.a.: „Alle Religionen anderer Menschen sind es wert, ... geachtet zu werden. Indem man sie achtet, ehrt man seinen eigenen Glauben und erweist gleichzeitig dem Glauben anderer Gutes. Handelt man aber umgekehrt, so verletzt man den eigenen Glauben und schadet dem anderen, denn wenn jemand den eigenen Glauben heraushebt und einen anderen heruntersetzt, um das eigene Bekenntnis zu verherrlichen, so vergeht er sich schwerwiegend an seinem eigenen Glauben. Darum ist Eintracht allein gut. Einer höre auf des anderen Glaubenserfahrung und gehe ihr nach, ... daß alle Religionen voneinander lernen.“ (ZUMSEIL, FRIEDRICH: Religionen, Stuttgart, 3., durchges. u. erw. Aufl., 1923, S. 17) Die traditionelle religiöse Toleranz im Hinduismus hat außerdem ihre Wurzeln darin, daß die „Götter“ aller Religionen als Personifizierungen des Brahmans, des ewigen Absoluten und der höchsten nicht-dualen Wirklichkeit verstanden werden.

Wie hielten es eigentlich die Stifter der jeweiligen Religionen mit der Toleranz? Ich greife nur drei vergleichsweise heraus – den Buddha, Jesus und Muhammad.

Der Buddha sieht den Streit um den rechten Glauben als ein Symptom der Unerlöstheit des Menschen von ichhaftem Dünkel und eigensüchtigem Begehren. Die inhaltliche Toleranz des Buddha kommt sehr anschaulich in seinem weithin bekannten Gleichnis von den Blindgeborenen und dem Elefanten zum Ausdruck. Es erzählt von einem König, der die Blindgeborenen eines Ortes zusammenruft und sich um einen Elefanten herumstellen läßt. Jeder der Blinden berührt einen Körperteil des Elefanten. Danach werden sie nach dem Aussehen des Tieres befragt. Der erste Blinde hat ein Elefantenbein berührt und sagt: Der Elefant ist wie eine Säule, stämmig und stabil. Derjenige, der den Rüssel zu fassen bekam, sagt: Nein, nicht wie eine Säule - das ist falsch. Der Elefant ist eher einem Schlauch vergleichbar, beweglich und innen hohl. Und der Blinde, der den Bauch gefühlt hat, sagt: Also beweglich und Schlauch - das stimmt auch nicht. Der Elefant ist wie eine riesige Kugel. Da widersprach der, der hinaufgeklettert war und das Ohr berührt hatte: Nein, er ist wie ein Seeigel, flach und beweglich. Und derjenige, der den Schwanz in der Hand hielt, sagt: Niemals wie ein Seeigel. Er ist ein großer Pinsel, nur sehr viel rauher. So stellten sie alle sich den Elefanten anders vor. Das Gleichnis hat eine tiefe Bedeutung. Der Buddha will offensichtlich sagen: Jeder der Blinden hat tatsächlich Berührung gehabt mit der Wirklichkeit des Elefanten, und alle sagen sie die Wahrheit. Aber es ist immer nur ein kleiner Teil der Wahrheit, und es ist falsch, ihn für die ganze zu halten. Da jeder einzelne nur nach dem winzigen Stück urteilt, das er selbst wahrnimmt, glaubt er, sein Eindruck sei der richtige, und die anderen irrten. Auf das religiöse Gebiet übertragen heißt das: Der Mensch sollte seine eigene partielle Erkenntnis des Ewigen nicht für universell gültig halten, denn die fremden religiösen Erfahrungen anderer beruhen genauso auf einer Berührung mit dem Heiligen wie die eigenen.

Ein weiterer Aspekt: Der Buddha hat natürlich Heilslehren verkündet, aber nie hat er die Lehre für das Entscheidende ausgegeben. Die Lehre hat für ihn keinen Selbstwert als Heilsvoraussetzung, sie ist nur ein „Fahrzeug“, ein Vehikel zum Erreichen des Ziels. Es lohne sich also nicht, meint der Buddha, über Lehrsätze zu streiten, denn sie hätten nur einen relativen und damit untergeordneten Wert.

Außerdem begegnet uns in den Überlieferungen des Buddha eine entschiedene Ablehnung jeglichen Autoritätsglaubens, der ja für die Intoleranz charakteristisch ist. So sagt er zu seinen Jüngern: „Richtet euch nicht nach ... der Mitteilung heiliger Schriften, sondern, wenn ihr ... selbst erkennt, daß diese oder jene Dinge schlecht und verwerflich sind, ... so sollt ihr sie verwerfen.“ (Anguttara Nikâya 888,65,
s. http://www2.salzburg-online.at/buddhismus/RB/docs/Kalama%20Sutta.pdf) Hier kommt übrigens derselbe Standpunkt zum Ausdruck, den Jesus vertritt, wenn er seinen Jüngern sagt, daß die Befolgung seiner Botschaft sich nicht auf äußere Autoritäten gründen soll, sondern auf die eigene Erfahrung derer, die den Willen Gottes tun. (Siehe dazu: Johannes 7,17)

Auch Jesus war – nach den Evangelientexten – in verschiedener Hinsicht tolerant, beispielsweise in der Erzählung vom Hauptmann zu Kapernaum (Johannes 4,46ff.), im Verzicht auf die Steinigung der Ehebrecherin (Johannes 8,1ff.) oder in dem Gespräch Jesu mit der samaritischen Frau am Jakobsbrunnen (Johannes 4,7ff.). In all diesen und weiteren Texten wird offenbar, daß Jesus den Glauben nicht als eine dogmatische Auslegung des Wortes der Väter versteht, sondern als ein Vertrauen auf „den Vater“, das sich in einer konkreten Situation bewähren muß, wie beispielsweise bei der Stillung des Sturms (s. Markus 4,35ff.).

„Dein Glaube [Gute-Nachricht-Bibel: dein Vertrauen!] hat dir geholfen“, sagt Jesus mehrmals, nachdem er einen Kranken geheilt hat. Damit meint er offensichtlich nicht den Glauben an Buchstaben und Dogmen, sondern das Vertrauen auf Gott, der durch ihn wirkt. Das Verhalten des Jesus der Evangelien ist nicht dogmatisch, sondern flexibel und situationsentsprechend, lebensnah und bedürfnisgerecht. Der Mensch, so soll Jesus beispielsweise gesagt haben, sei nicht für den Schabbat gemacht, sondern der Schabbat sei für den Menschen da (s. Markus 2,27). Und wenn der gesetzestreue Jude dem Tempel opferte, was eigentlich seine armen Eltern dringender gebraucht hätten, dann war Jesus dafür, einer solchen Regel nicht zu folgen (s. Markus 7,11). Er meinte, daß im Konfliktfalle die Gesetze der Menschlichkeit über den von Menschen geschaffenen religiösen Weisungen zu stehen hätten. Aus Jesu Verkündigung geht hervor, daß Religion für ihn stets eine persönliche Glaubensentscheidung war und nicht die radikale Unterwerfung unter das mosaïsche Gesetz. Deshalb stellt er auch mit seinem souveränen „Ich aber sage euch...“ in der sogenannten Bergpredigt (Matthäus 5,22 u.a.) die inhaltliche Erfüllung des Gesetzes über die rein formale. Paulus unterstreicht das in seinem Brief an die Korinther, wo er schreibt: „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. [...] ...wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2. Korinther 3,6.17 - Lu) – Einer solchen Haltung ist jene Intoleranz fremd, die auf die ausschließliche Wahrheit und absolut bedingungslose Gültigkeit des überlieferten oder des eigenen heiligen Wortes pocht. Allerdings war das junge Christentum gegen Ende des zweiten Jahrhunderts in seiner Dogmatik und seinem Durchsetzungswillen weit weniger tolerant als sein Begründer.

Bei Muhammad ist die Beurteilung nach Toleranz und Intoleranz komplizierter als bei Jesus, weil der Prophet offensichtlich nicht zu allen Zeiten seines Lebens dieselbe Einstellung in dieser Frage gehabt hat. So könnte leicht eine Aussage von ihm durch eine frühere oder spätere widerlegt werden. Auch der Koran enthält (übrigens wie auch die Bibel!) durchaus Stellen, die im Sinne des Hasses und der Gewalt ausgelegt werden können, und so machen islamistische Fundamentalisten heute rege Gebrauch von der Möglichkeit, ihre Haßpredigten mit Koranversen zu begründen.

Im Koran gibt es neben martialischen Sprüchen (die sich, ich wiederhole es, gleichfalls in der Bibel finden), aber auch eindeutig tolerante Äußerungen, die der Gerechtigkeit wegen keinesfalls ignoriert werden dürfen. In der Sure 2,257 steht beispielsweise der sehr wichtige Satz: „Es soll kein Zwang sein im Glauben.“ Zu Anfang richtete sich die Toleranz Muhammads vor allem noch auf die „Schriftbesitzer“ (also die Juden und die Christen). Allerdings brachte es später die starke Politisierung des Islam mit sich, daß die Toleranz immer mehr von der Intoleranz verdrängt wurde. So wäre es meines Erachtens an der Zeit, daß fortschrittliche Muslime noch sehr viel mehr, als es bereits geschieht, die historisch gewachsenen Glaubens- und Lebensgrundsätze einer kritischen Überprüfung unterziehen, deren Zeitbezogenheit wahrnehmen und die allzu strengen, teilweise unmenschlichen Traditionen zu überwinden suchen.

Ich finde übrigens die in letzter Zeit gebräuchlich gewordene Unterscheidung zwischen dem Islam und dem Islamismus sehr nützlich und hilfreich. Dabei ist mit dem Islam die Religion gemeint, und unter Islamismus wird die mißbräuchliche Instrumentalisierung dieser Religion zur ideologischen Fundierung extremistischer politischer Ziele verstanden. Diese Unterscheidung ist wichtig, damit deutlich wird: Wenn der islamistische Terror eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden in der Welt darstellt, dann kann dafür nicht der Islam verantwortlich gemacht werden. Sieht man nämlich die spirituelle und ethische Seite des Islam im Vordergrund, dann hat er als eine friedliche Religion der Hingabe des Menschen an Gott und an seinen Nächsten zu gelten, als eine Religion, die in allen privaten und öffentlichen Bereichen die Grundlage schaffen soll für ein gottgefälliges Leben. Also bedient sich der militante Islamismus des Namens „Islam“ mißbräuchlich für die Rechtfertigung von Haß und Feindschaft, Gewalt und Aggression. Menschen muslimischen Glaubens betonen immer wieder, daß nach ihrem Verständnis islamistische Terroristen und Selbstmordattentäter kein Recht hätten, sich Muslime zu nennen, weil sie sich mit ihren abscheulichen Verbrechen nicht auf die islamische Religion berufen könnten und weil sie ihr in der Welt schweren Schaden zufügten.

Toleranz muß freilich auch ihre Grenze haben. Diese liegt naturgemäß da, wo die intolerante Absolutsetzung der eigenen religiösen Auffassungen beginnt und die Mißachtung und Verfolgung fremder Religion, wo der Mißbrauch der Religion für inhumane politische Ziele zum Fanatismus wird und zu einer Gefahr für die Menschlichkeit. Wollte man dieser Intoleranz, die sich im praktischen Handeln niederschlägt, mit Toleranz begegnen, so müßte die Toleranz sich selbst aufgeben. Deshalb beinhaltet die moralische Verpflichtung zur Toleranz unbedingt auch den konsequenten Einsatz gegen die Intoleranz mit den jeweils geeigneten Mitteln. Dabei dürfen wir allerdings nicht der fremden Religion und ihren Gläubigen mit Vorbehalten begegnen, nur weil deren Führer sich intolerant verhalten. Die von uns bekämpfte religiös verbrämte Intoleranz richtet sich nur gegen Volksverhetzung, Haßverbreitung und inhumanes Handeln. So sollte sich beispielsweise unser leidenschaftlicher Protest gegen jeden Terror richten, den, der im Namen einer Religion verübt wird, ebenso wie gegen den, der von einer Staatsführung ausgeht, nicht aber gegen die jeweilige Religion und das jeweilige Volk. Dabei ist es mir ein wichtiges Anliegen, daß wir den Kampf gegen jedweden Terror nicht mit den gleichen Mitteln führen, die ihm eigen sind, denn dann würden wir uns mit ihm auf dieselbe Stufe stellen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß man Terror nicht mit Terror, Verbrechen nicht mit Verbrechen und Bomben nicht mit Bomben bekämpfen kann.

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